Auf einer Veranstaltung berichten Beschäftigte von ihren Kämpfen gegen die Ausbeutungsmethoden der Lieferdienste.

Lieferdienste: Moderne Sklaverei in Deutschland

Am 10. Juli kamen in Berlin rund 60 Interessierte, darunter einige Beschäftigte der Lieferdienste wie Lieferando, Wolt und UberEats, zusammen, um in einer Veranstaltung »Ausbeutung per App« über die Arbeitsbedingungen in der Branche zu sprechen. Für SVU berichtet Milla Mallikas.

Wie in der Branche üblich, haben die Anwesenden überwiegend einen Migrationshintergrund. Viele haben keinen deutschen Pass. Und das hat System, liegt an der Strategie der Konzerne der Branche, wie die drei Referent:innen erklären.

Shivani Sharma hat Wolt angeklagt wegen unvergüteter Arbeit. Samee Ullah ist Mitbegründer von Lieferando Workers Collective und setzt sich aktiv für die Rechte der Lieferdienstmitarbeiter:innen ein, auch im Betriebsrat bei Lieferando – ein jetzt noch existierendes Organ und ein rares Gut in der Branche. Aju Ghevarghese John ist ein Anwalt und Mitglied der Initiative »Migrant:innen für menschenwürdige Arbeit«. Moderiert wurde die Veranstaltung von Johanna Schellhagen von Labournet TV.

»Diese Unternehmen können nicht überleben, wenn es keine prekäre Bevölkerung gibt, die diese Unternehmen ausbeuten können. Ohne diese allgemeine Prekarität, ohne diesen starken wirtschaftlichen Druck, würden Plattformen heute in Berlin nicht überleben können«, erzählt Aju.

Lieferdienste setzen Flottenmanager ein

UberEats, Wolt und andere stellen selbst keine der Fahrer:innen ein, sondern verwenden Outsourcing an Subunternehmen mit Flottenmanager – Fleet Managers. So sparen die Lieferdienst-Apps die Beiträge zu den Sozialversicherungen sowie Steuern. Samee erklärt, dass da gar mafiöse Strukturen im Spiel sind: »Flottenmanager bringen Menschen aus Osteuropa, um ein Unternehmen zu registrieren, das als Subunternehmer tätig ist. Daher werden sogenannte Flottenmanager meist nur zu diesem Zweck importiert. Und dies wird von einer organisierten Mafia durchgeführt, zu der auch einige Mitarbeiter:innen von Lieferunternehmen gehören.«

Die Lohnzahlung bleibt häufig aus, da es schwer oder sogar unmöglich gemacht wird diese Strukturen ins Ausland zu folgen. Shivani bekam ein halbes Jahr lang keinen Lohn bezahlt. Als sie sich direkt an Wolt wandte – unter dessen Namen sie ihre Dienstkleidung, ihr Liefertasche sowie Adressenlisten der Kund:innen hatte – bekam sie als Antwort, dass das Unternehmen nichts tun könne. Nachdem sie daraufhin Wolt verklagte, argumentierte die Verteidigung, dass Wolt keine Verbindung zu den Subunternehmen hätte. Auch das Landesgericht in Berlin sah die Situation ähnlich und wies die Klage ab.

Die meisten Fahrer:innen kommen nach Deutschland für ein Studium an einer Privatuniversität. Sie hoffen, auch nach dem Studium bleiben zu können und ihre Zukunft hier aufzubauen. Um diese Hoffnung ist eine ganze Industrie entstanden mit Privatuniversitäten – ohne eigene, ordentliche Gebäude und Seminarräumen – Bildungsagenturen, Geldverleiher:innen und Vermieter:innen.  Universitäten verlangen eine jährliche Studiengebühr von 12.000 Euro, die die Studierenden meistens in Raten von mindestens 800 Euro monatlich abzahlen müssen.

Hinzu kommen die Kosten für ihr Visum, da Deutschland 12.000 Euro auf einem Bankkonto verlangt. Dies können sich die meisten Familien in Indien oder Pakistan nicht ohne Kredite leisten. In Deutschland angekommen sind die Studierenden ohne Netzwerke und Sprachkenntnisse zusätzlich auf dubiose Mietstrukturen angewiesen. Oft teilen sich vier bis fünf Personen ein Zimmer für je 500 Euro monatlich. Da sie mit einem Studierendenvisum maximal 20 Wochenstunden arbeiten dürfen und ohne Ausbildung oder Arbeitserfahrung mit ihrem Lohn von 20 Wochenstunden ihre Kosten nicht abdecken können, sind die Studierenden zu dieser Art der Arbeit verurteilt und praktisch entrechtet.

Keine Arbeitsverträge

Die Lieferdienste haben die Notlage der Studierenden erkannt und eine ganze Struktur der Ausbeutung entwickelt. Sie veröffentlichen keine normalen Stellenanzeigen, sondern rekrutieren die Mitarbeitenden durch Vermittler:innen direkt an den Universitäten. Die meisten Fahrer:innen bekommen keine Arbeitsverträge. Sie können keine Büros besuchen, da keine existieren. Sie bekommen nur eine App für die Bestellungen und Adressen der Kund:innen, wofür sie erst um die 500 Euro vorschießen müssen. Ihren Lohn bekommen die Mitarbeitenden von ihnen unbekannten Personen bar in die Hand.

Da es keine Büros oder andere Räume zum Treffen gibt, kennen sich die Fahrer:innen meistens nicht untereinander, können somit ihre Erfahrungen nicht teilen und sich organisieren. Die meisten sind eingeschüchtert, haben Angst um ihr Visum. Diese Existenzängsten nutzen die Lieferdienste aus, falls es zu Beschwerden kommt.

Obwohl Verstöße gegen die Lohnzahlung üblich sind, kommt es sehr selten zu eigentlichen Klagen, da die Lieferdienste Schweigegeld zahlen. Für die Mitarbeiter:innen, die bereits in Geldnot stecken, ist das dann ein besseres Angebot verglichen mit monate- oder jahrelangen Gerichtsverfahren ohne Aussicht auf Erfolg.

Im Januar dieses Jahres haben einige Mitarbeitende gestreikt. Die Lieferdienste haben sie dann einfach aus der Bestellapp ausgeloggt. Die Beschäftigten haben dadurch nicht nur ihre Arbeit verloren, sondern auch die 500 Euro, die sie für die App vorgeschossen hatten. Samee nennt diese ganze Praxis legalen Menschenschmuggel.

Prekär trotz Verträge

Lieferando hat als einzige der Firmen noch bis vor kurzem Arbeitsverträge erstellt. Allerdings hat auch dieser Konzern darauf geachtet, die Beschäftigten in prekären Verhältnissen zu halten. Die Praxis ist, die Arbeitsverträge kurz vor Ablauf der sechsmonatigen Probezeit zu kündigen. Trotzdem sind diese Arbeitsverträge wichtige Vorteile in der Branche und geben Sicherheit, Kranken- sowie Renten- und Arbeitslosenversicherung.

Aber auch Lieferando unterläuft den Mindestlohn und stellt keine Fahrräder oder Handys für die Mitarbeitenden – die essentiellen Werkzeuge in dem Metier. Nun knickt auch dieser »beste Arbeitgeber« vor dem kapitalistischen Wettbewerbsdruck ein. Lieferando will die Mitarbeitenden mit festen Verträgen entlassen und ihnen einen schlechteren Vertrag bei einem der Subunternehmen anbieten. Zudem hat Lieferando Betriebsräte, was bei den Subunternehmen nicht der Fall ist – die Parallelen zu den Logistik-Dienstleistern wie DHL sind offensichtlich.

Die Büros der Betriebsräte dienen als wichtige Räume für Begegnungen, Support und Organisierung. Samee erzählt, dass sie und die Initiative Lieferando Workers Collective auch alle Hände voll zu tun haben. Es gibt zum Beispiel immer wieder »Fehler« in der Gehaltsabrechnung. Die LWC hat zudem einen Solidaritätsfond errichtet, der den Mitarbeitenden finanziell hilft, wenn die Gehaltszahlungen wieder ausbleiben.

»platform directive« könnte Lieferdienste zu besseren Arbeitsbedingungen zwingen

Samee fordert, dass die Struktur der Subunternehmen durch Gesetze abgeschafft wird. Auf EU-Ebene wird an einer »platform directive« gearbeitet, die für bessere Arbeitsbedingungen für die Mitarbeitenden in digitalen Diensten sorgen soll. Samee will, dass Deutschland zumindest dieses Gesetz ratifiziert.

Nach Ansicht des Berliner Landgericht konnte Shivani nicht genug Beweise liefern, dass sie letztendlich für Wolt gearbeitet hätte und daher Wolt für ihren Lohn zuständig sei. Die Richter:innen argumentierten, dass Shivani die Unternehmensstruktur mit Flottenmanagern von Wolt hätte kennen müssen und deswegen gewusst hätte, worauf sie sich einlässt.

Die jungen Studierenden aber, die oft das erste Mal in Europa sind und weder die Sprache noch ihre Arbeiter:innenrechte kennen, bekommen meist keine ordentlichen Verträge. Häufig kennen sie nicht einmal die Namen der Auftraggeber, sondern haben nur die Bestellapp mit einer Mitarbeitendennummer. Sie wissen nicht, dass hinter den Lieferdiensten diese externen Subunternehmen stecken. Shivani will aber nicht aufgeben und geht mit ihrem Anwalt in Berufung in der Hoffnung auf Richter:innen mit mehr Verständnis – und dem Wunsch, ein Beispiel für den weiteren Kampf zu schaffen.

Samee ist aber frustriert: »Wir kämpfen seit zwei Jahren und bekommen viel Sichtbarkeit. Trotzdem ändert sich nichts.« Er findet das Verbot der wilden Streiks in Deutschland problematisch. Diese Praxis ist zum Beispiel in Indien sehr verbreitet, um erst Aufmerksamkeit zu erzielen und danach in die Verhandlungen zu gehen. Hier traut sich das jedoch niemand, da sie ihre Jobs sofort verlören und keine juristische Unterstützung bekämen. LWC sammelt nun weitere Beweise von Mitarbeitenden, um zu zeigen, wie die Lieferdienste Menschen ausbeuten: »Es ist nicht nur eine politische Frage, es geht um unser Überleben!«

Auf der Veranstaltung waren einige Organisationen vertreten, die diese Probleme bekämpfen und auch finanziellen Support anbieten: Payday, Migrant Worker Solidarity Movement, Initiative Kämpfende Arbeiter:innen und Stiftung Menschenwürde und Arbeitswelt.

Als nächstes steht die Auseinandersetzung um den Erhalt der Arbeitsverträge bei Lieferando an.


Titelbild: Christoph Scholz / Flickr