Verteidigungsminister Boris Pistorius plant eine »freiwillige Wehrpflicht«. Tobias Pflüger von der Informationsstelle Militarisierung meint, dass es dabei nicht bleiben wird.
Sozialismus von unten: Anfang Juli wurde der Entwurf von Verteidigungsminister Boris Pistorius für ein Wehrpflichtgesetz geleakt. Bei dem so genannten »freiwilligen Wehrdienst« sollen alle männlichen Jugendlichen ab dem Jahrgang 2008 gemustert und gefragt werden, ob sie Interesse am Wehrdienst haben. Junge Frauen können sich freiwillig mustern lassen. Warum soll gerade jetzt die Wehrpflicht wieder eingeführt werden?
Tobias Pflüger: Unter Verteidigungsminister Pistorius hat man sich geeinigt, die Bundeswehr hochzufahren.
Die Vorgabe der NATO für die Größe der Bundeswehr soll bis zu 260.000 Soldatinnen und Soldaten sein. Gerade wird viel Geld in die Bundeswehr reingesteckt, aber das Personal ist eigentlich nicht vorhanden.
Das heißt, die Wehrpflicht soll wieder eingeführt werden. Formal heißt es zunächst »freiwillig«. Nach diesem Gesetzentwurf soll die Bundeswehr pro Jahr zusätzlich 15.000 Wehrpflichtige in die Ausbildung bekommen. Das sollen bis 2029 insgesamt 115.000 sein.
Das sind Wahnsinnszahlen, sie müssen richtig zugreifen, wenn sie das erreichen wollen.
Die Wehrerfassung soll wieder eingeführt werden. Alle werden mit 18 erfasst, egal welchen Geschlechts. Männer müssen verpflichtend einen Fragebogen ausfüllen, alle anderen freiwillig.
Meine These: Das wird nicht funktionieren, weil die Zahl so hoch ist. Und dann wird schnell auf eine verpflichtende Wehrpflicht umgeschaltet.
Das Verfahren, auf das sich die Regierung für diesen Fall geeinigt hat, ist, dass das Kabinett und dann der Bundestag mit einfacher Mehrheit die Verpflichtung beschließen können. Der Gesetzentwurf soll im September in den Bundestag eingespeist und abgestimmt werden, so dass 2026 dann die Rekrutierung starten kann.
Boris Pistorius spricht von einer »freiwilligen Wehrpflicht« – das ist ja ein Widerspruch. Können Jugendliche zum Einsatz gezwungen werden?
Sobald die Wehrpflicht eingeführt ist, gibt es einen Zwang. Das Ausfüllen ist Zwang, auch die Erfassung ist Zwang.
Als Begründung müssen sie nach dem Entwurf nur noch die Voraussetzung haben »wenn die verteidigungspolitische Lage das erfordert.« Das ist eine neue Begrifflichkeit, die eingeführt wurde und bedeutet, dass die Wehrpflicht kommt, wenn die Bundesregierung das für opportun hält. Für uns als Gegner:innen der Wehrpflicht ist es »hilfreich«, dass es nochmal einen Beschluss im Bundestag geben muss, aber ich ahne, dass der militärisch-politische Komplex von Grünen bis AfD das unterstützen wird. Das heißt, dass wir jetzt außerparlamentarisch handeln müssen.
2011 wurde die Wehrpflicht ausgesetzt, warum?
Die politische Gemengelage war damals anders. Damals gab es Auslandseinsätze, wie in Afghanistan, aber selbst die Bundeswehr ging von keiner direkten geopolitischen Konfrontation aus. Statt dessen wurden Soldat:innen im Rahmen der Freiwilligenarmee für die Auslandseinsätze vorbereitet. Jetzt läuft eine unmittelbare Kriegsvorbereitung. Bundeswehr und Gesellschaft sollen in einem ganz anderen Umfang kriegstüchtig werden. Diese Entwicklung kann man auch am Militärhaushalt ablesen, er betrug im Jahr 2001 25,8 Milliarden Euro, jetzt ist er bei über 88 Milliarden Euro, wenn man den »Verteidigungshaushalt« und versteckte Ausgaben in anderen Haushalten mitrechnet – z.B. Ausgaben für Militärforschung oder z.T. auch Ausgaben aus dem Entwicklungsetat. Diese Art der Berechnung nennt man den Militärhaushalt nach NATO-Kritieren.
Die reinen Ausgaben des Militärhaushaltes soll folgendermaßen steigen: 2025: 62,4, 2026: 82,7, 2027: 93,3, 2028: 136,5 und 2029: 152,8 Mrd. Euro. Zielgröße ist insgesamt 250 Mrd., also die Hälfte des jetzigen gesamten Bundeshaushalts.
Zudem ist wichtig zu sehen: Es gab damals ja keine Abschaffung der Wehrpflicht, sondern nur eine Aussetzung – deshalb kann sie einfacher reaktiviert werden.
Ein Studium oder eine Ausbildung bei der Bundeswehr ist z.B. für einige Jugendliche vermeintlich attraktiv, weil sie Studiengebühren sparen und die Bedingungen gut sind. Wo ist der Haken?
Ich gebe mal ein Beispiel eines Schulkameraden, der sich keine vernünftige universitäre Ausbildung in Musik leisten konnte. Er war damals acht Jahre bei der Bundeswehr, was er eigentlich gar nicht wollte. Er hat eine Musikausbildung bekommen, musste aber auch die »normale« Bundeswehrausbildung durchmachen. Er wurde vorbereitet auf den Krieg und wäre im Zweifelsfall an die Front geschickt worden. Man ist dann also eingebunden ins Bundeswehrsystem. Und dabei geht es letztlich um töten und getötet werden. Es wird nach Befehl und Gehorsam agiert. Wer sich auf eine Ausbildung bei der Bundeswehr einlässt, nimmt in Kauf, dass sie Teil der Kriegsmaschine ist.
Es ist ganz klar, die sich jetzt melden, auf die wird zugegriffen werden. Solche Menschen wie Kretschmann, die jetzt die Rüstungsindustrie fördern, sprechen immer von »Verteidigung«. Aber es geht immer um Angriff und Verteidigung. Das sieht man an Strategiepapieren, bei der Rüstungsprojekten etc.
Was können wir jetzt tun, um die Wiedereinführung der Wehrpflicht zu verhindern?
Mobilisieren!
Es gibt in der öffentlichen Meinung insgesamt eine relative Mehrheit für die Wehrpflicht, aber bei den Betroffenen, den Jüngeren, eine klare Mehrheit dagegen. Das ist ein guter Ansatzpunkt, um gemeinsam mit denen dagegen zu mobilisieren mit allen Gruppen, die es gibt und zu sagen: Keine Wehrpflicht!
Ich kenne kaum Jugendorganisationen, die für die Wehrpflicht sind. Das heißt eigentlich müsste man jetzt ein schönes, breites Bündnis auf die Beine stellen können. Dafür müssen wir jetzt aktiv werden!
Zur Person: Tobias Pflüger ist Mitglied im Vorstand der Informationsstelle Militarisierung. 2004-09 war er Mitglied des Europäischen Parlaments, 2017-2021 Mitglied des Bundestages. Von 2014-22 war er stellvertretender Parteivorsitzender der Linken.
Das Interview führte Christine Buchholz.
(Foto: © Bundeswehr/Tom Twardy)