Gaza

Gaza: »Wir fürchten ethnische Säuberungen«

Die israelische Regierung ist entschlossen, die Palästinenser:innen dafür zu bestrafen, dass sie Widerstand gegen den Siedlerkolonialismus leisten. Wir dokumentieren kritische Stimmen aus Gaza und Israel

Nach den Angriffen der Hamas, will die israelische Regierung im Gazastreifen offenkundig ein Exempel statuieren. Verteidigungsminister Yoav Gallant erklärte: »Ich habe eine vollständige Belagerung des Gazastreifens angeordnet. Es wird keinen Strom geben, keine Lebensmittel, kein Benzin. Alles wird abgeriegelt«. Um diese Kollektivstrafe zu rechtfertigen verglich der Verteidigungsminister die zwei Millionen Einwohner:innen von Gaza mit Tieren: »Wir kämpfen gegen menschliche Tiere und handeln entsprechend.«

Netanyahu: »In Schutt und Asche legen«

Auch der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanyahu sprach am 10. Oktober von einer »Vernichtung«: »Alle Orte, an denen die Hamas stationiert ist, sich versteckt und operiert, diese verruchte Stadt, werden wir in Schutt und Asche legen.« Weiter sagte er: »Wir werden sie vernichten (…) Wir werden einen Preis fordern, an den sie und Israels andere Feinde sich noch Jahrzehnte lang erinnern werden.« Während also die offiziellen Repräsentanten Israels ihren offensichtlich unterlegenen Gegner dämoniseren, leidet vor allem die Zivilbevölkerung in Gaza unter den Rachegelüsten und Vernichtungsphantasien der rechtsradikalen israelischen Regierung.

Menschenrechtsorganisation B’Tselem warnt vor Kriegsverbrechen

Die israelische Menschenrechtsorganisation B’Tselem schreibt: »Eine verbrecherische Politik der Rache ist im Gange. Seit Samstag hat Israel Hunderte von Tonnen an Bomben auf den Gazastreifen abgeworfen. Netanjahus Aufforderung an die Bewohner, den Gazastreifen zu verlassen, ist eine Farce, die nichts mit der Realität zu tun hat. Der Gaza-Streifen ist von allen Seiten abgeriegelt, und die Bewohner haben keinen Ausweg. Es gibt keine Notunterkünfte und keine Möglichkeit, Schutz vor Luftangriffen zu suchen.«

Eine »humanitäre Katastrophe« droht

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) warnte vor einer »humanitäre Katastrophe«. In einem Statement heißt es: »Da die Zahl der Verletzten und Todesopfer aufgrund der anhaltenden Luftangriffe auf den Gazastreifen weiter zunimmt, verschärft der akute Mangel an medizinischen Hilfsgütern die Krise und schränkt die Reaktionsfähigkeit der bereits überlasteten Krankenhäuser bei der Behandlung von Kranken und Verletzten ein.« Ein Sprecher der WHO wies darauf hin, dass die Verlegung von schwer kranken und schwer verletzten Patienten aus dem nördlichen Gazastreifen unmöglich sei. »Solche Menschen zu transportieren, kommt einem Todesurteil gleich«, sagte Sprecher Tarik Jasarevic.

Auch das UN-Hilfswerk für Palästinensische Flüchtlinge (UNRWA) warnte, der Küstenstreifen werde angesichts der massiven Luftangriffe und der Abriegelung zu einem »Höllenloch und steht am Rande des Zusammenbruchs«.

Ghassan Abu Sitta, ein Chirurg im größten Krankenhaus des Gazastreifens, Al-Shifa, berichtet gegenüber Al Jazeera, dass bei ihm 50 Patient:innen auf einen OP-Termin warten: »Wir sind bereits über die Kapazität des Systems hinaus«, sagte er. Das Gesundheitssystem »hat noch den Rest der Woche Zeit, bevor es zusammenbricht, nicht nur wegen des Diesels. Alle Vorräte werden knapp.«

Im gesamten Gazastreifen drohen den Krankenhäusern die Treibstoffreserven auszugehen, nachdem das einzige Kraftwerk des palästinensischen Gebiets am Mittwoch seinen Betrieb eingestellt hat, weil Israel die Lieferung von Treibstoff verweigert hat. Ahmed Sheikh Ali, dessen Familie einen Angriff auf ihr Haus überlebt hat, aber im Krankenhaus liegt, sagt: »Mein Bruder, meine beiden Schwestern und meine Eltern sterben langsam vor meinen Augen, und es bricht mir das Herz, dass ich nichts tun kann, um sie zu retten.«

Israel lehnt Einfuhr von Treibstoff ab

Die Vermittlungsbemühungen, die die Einfuhr von Treibstoff und lebenswichtigen medizinischen Gütern ermöglichen sollten, sind am Widerstand Israels gescheitert. Das Kraftwerk im Gazastreifen ist nach wie vor nicht in Betrieb und es ist fraglich, wie das Leben im Gazastreifen in den kommenden Tagen aufrechterhalten werden kann. Nach Einschätzung der Betreiber müsste Israel die Blockade aufheben und den Zugang zu dem von der Bevölkerung so dringend benötigten Treibstoff ermöglichen. Die WHO schreibt: »Der Zugang für medizinische Notfallteams vor Ort wird durch Schäden an der Infrastruktur erheblich erschwert. Die WHO hat 34 Angriffe auf die Gesundheitsversorgung im Gazastreifen seit letztem Samstag dokumentiert, bei denen 11 Mitarbeiter des Gesundheitswesens im Dienst ums Leben kamen, 16 verletzt wurden und 19 Gesundheitseinrichtungen und 20 Krankenwagen beschädigt wurden. Ohne die sofortige Einreise von humanitärer Hilfe in den Gazastreifen – insbesondere von Gesundheitsdiensten, medizinischen Hilfsgütern, Nahrungsmitteln, sauberem Wasser, Treibstoff und anderen Hilfsgütern – werden die humanitären und gesundheitlichen Partner nicht in der Lage sein, auf die dringenden Bedürfnisse der Menschen zu reagieren, die sie dringend benötigen. Jede verlorene Stunde gefährdet weitere Menschenleben.«

Durch die Stromausfälle ist der Zugang zu Geld an Geldautomaten und in Banken zu einer großen Herausforderung geworden. Familien, die sich danach sehnen, ihre Angehörigen in Übersee zu erreichen, haben keine Kommunikationsmöglichkeiten mehr, was die ohnehin schon unvorstellbaren Bedingungen noch weiter verschärft.

Angriffe auf Journalist:innen

Für Journalist:innen, die in Gaza an vorderster Front arbeiten, ist der Zugang zu Informationen, Quellen und Zeug:innen – die Grundlage für eine Berichterstattung – immer schwieriger, wenn nicht gar unmöglich geworden. In der Vergangenheit kam es immerwieder zu Übergriffen bis hin zur Ermordung von Journalist:innen durch die Besatzungsmacht Israel. Journalist:innen riskieren ihr Leben. Die TAZ schreibt: »In den ersten sieben Tagen der Kämpfe wurden mindestens 11 Jour­na­lis­t*in­nen getötet, zwei verletzt und zwei werden vermisst.« Darunter sind mindestens neun palästinensische Journalist:innen, die bei israelischen Luftangriffen ums Leben kamen oder erschossen wurden. Reporter ohne Grenzen (RSF) berichtete über die offenbar gezielte Tötung des unabhängigen Fotojournalisten Mohammed al-Salihi, Korrespondent der palästinensischen Nachrichtenagentur Al-Sulta Al-Rabia durch die israelische Armee. Nach Informationen von RSF wurde er an der Ostgrenze des Gazastreifens von mehreren Kugeln in den Kopf getroffen.

Tod und Verwüstung

Nach Angaben des Gesundheitsministeriums wurden durch israelische Bombardements mindestens 1799 Menschen getötet und 7388 verletzt. Nach Schätzungen der Vereinten Nationen sind bereits mehr als 423.000 Menschen aus ihren Häusern in dem Gebiet geflohen. Straßen und öffentliche Gebäude, darunter Schulen, Stromversorgung, Wasseraufbereitung oder Kliniken, wurden durch Luftangriffe stark beschädigt. Die ganze Stadt ist voll vom Schutt zerbombter Häuser. Auch Wasser ist knapp: Fast das gesamte im Gazastreifen gewonnene Wasser muss entsalzt oder gereinigt werden, um es trinken zu können, und das geht nur mit Strom. Auch Israel hat die Wasserlieferungen an den Gazastreifen gekürzt, und ein Teil des Wassernetzes wurde durch Bombardierungen beschädigt.

Trauer, Verzweiflung und Wut

Die Menschen in Gaza sind trauig, verzweifelt und wütend. Nebal Farsakh, eine Sprecherin des Palästinensischen Roten Halbmonds in Gaza-Stadt, brach in Tränen aus, als sie versuchte, zu verstehen, was vor sich ging, schreibt der Guardian. »Vergiss das Essen, vergiss den Strom, vergiss den Treibstoff«, sagte sie. »Die einzige Sorge ist jetzt, ob du es schaffst – ob du überleben wirst.« Rama Abu Amra, eine Studentin, die seit Beginn der Bombardierungen mehrmals mit ihrer Familie durch Gaza-Stadt geflohen ist, berichtet: »Wir sind überhaupt nicht sicher, wir werden ständig angegriffen. (…) Wir wissen einfach nicht, was wir tun sollen. Wir hoffen, am Leben zu bleiben, denn ich weiß wirklich nicht, ob ich das werde oder nicht. Beten Sie einfach für uns. Wir haben kein Internet, kein Wasser und keine Nahrung. Keine Verbindung, alles ist so schwer. So etwas haben wir noch nie erlebt.«

Arrej, eine Bewohnerin aus Gaza erklärt: »Das Ausmaß dieses Angriffs ist schlimmer als 2014 und 2021. Israelische Schiffe schießen wahllos auf uns, und in Al Qarara haben die Israelis Phosphorbomben eingesetzt. Die Befürchtung ist nun, dass die Israelis versuchen, eine ethnische Säuberung der Palästinenser von Gaza nach Ägypten durchzuführen.«