Israel befeuert die Gefahr eines regionalen Flächenbrandes. Ausgangspunkt der jüngsten Eskalation ist ein Raketeneinschlag in Majdal Shams auf den syrischen Golanhöhen. Mounir al-Ghazali über die perfide Propagandataktik hinter der tötlichen Explosion
Zwölf Kinder starben am 27. Juli durch einen Raketeneinschlag in der Stadt Majdal Shams auf den Golanhöhen. Diese sind seit 1967 von Israel besetzt und wurden 1981 völkerrechtswidrig annektiert. Die israelische Regierung hat diesen Vorfall genutzt, um ihre Kriegsrhetorik gegen die Hisbollah und den Iran zu verschärfen. Damit rechtfertigte sie einen Luftschlag auf Beirut drei Tage später, der den hochrangigen Kommandanten der Hisbollah Fuad Shukr tötete. Noch in derselben Nacht tötete ein weiterer Angriff den politischen Leiter der Hamas Ismail Haniyeh in Teheran.
Seitdem schwebt eine akute Kriegsgefahr über dem Libanon, dem Iran und der ganzen Region. Die genannten politischen Morde sind nicht die ersten eskalativen Schritte Israels. Schon die Ermordung eines Mitglieds der Führung von Hamas mitten in Beirut im Januar und die Attacke auf das iranische Konsulat in Syrien Anfang April waren bewusste Provokationen. Ende Juni versprach die israelische Kriegsrhetorik den Libanon »zurück in die Steinzeit zu bomben«.
Währenddessen führt Israel den Genozid in Gaza mit unverminderter Brutalität fort. Das Vorgehen der israelischen Armee dort ist kein Krieg zwischen zwei Seiten. Hier geht eine Kolonialmacht gegen die von ihr unterdrückte Bevölkerung vor, in der Absicht sie »als solche ganz oder teilweise zu zerstören« (UN-Konvention gegen Genozid). Dazu dienen die israelische Blockade und Behinderung von Lebensmittellieferungen, die eine Hungersnot ausgelöst haben, die gezielten Angriffe auf nahezu alle Krankenhäuser im Gazastreifen, das Zerstören der Wasserversorgung und zahlreiche Massaker an Zivilist:innen. Auch haben diverse israelische Regierungspolitiker:innen und Mitglieder der Armee ihre genozidale Absicht öffentlich verkündet.
Die aktuelle israelische Eskalation lenkt von diesem Genozid ab und ermöglicht seine Fortsetzung, indem sie Verhandlungen behindert. Dies nicht zuletzt, da Israel mit Haniyeh den Chefverhandler der Hamas getötet hat. Zusätzlich könnte ein drohender Krieg die USA mit hineinziehen, die daran zwar kein Interesse hätte, aber aktuell eine zusätzliche Flugzeugträgergruppe und ein U-Boot in die Region verlegt. Ausgangspunkt dieser beängstigenden Lage war der Raketeneinschlag in Majdal Shams, vor allem aber die Ausnutzung des Vorfalls durch Israel. Grund genug, sich genauer anzuschauen, wie diese Situation entstanden ist.
Der Einschlag in Majdal Shams
Zwölf Kinder starben in Majdal Shams durch die Explosion, viele weitere wurden verletzt. Wer die Rakete abgefeuert hat, ist ungeklärt, auch weil Israel keine unabhängige Untersuchung erlaubt hat. Die Bruchstücke einer Falaq-Rakete, die Israel als Beweis für die Schuld der Hisbollah lieferte, wurden im Labor fotografiert. Nichts beweist, dass sie aus Majdal Shams stammen. Die Hisbollah wiederum distanziert sich von dem Vorfall und spricht von einer fehlgeleiteten Abfangrakete Israels.
Tatsächlich sind solche Abfangraketen in der Vergangenheit auf israelische Städte niedergegangen. Ob das in Majdal Shams ebenfalls der Fall war, bleibt aber Spekulation. Ziemlich sicher ist nur, dass der Einschlag der Rakete zwischen spielenden Kindern unbeabsichtigt gewesen sein muss. Weder Israel noch die Hisbollah hätten ein Interesse daran, syrisch-drusische Kinder zu töten. Für beide wäre die öffentliche Wirkung ein Desaster, ohne militärischen Nutzen.
Ein heuchlerisches Medienspektakel
Die meisten Menschen in Majdal Shams haben sich auch nach 57 Jahren israelischer Besatzung geweigert, die israelische Staatsbürgerschaft anzunehmen. Sie sind drusische Araber:innen mit engen familiären Verbindungen nach Syrien, zu dem die Golanhöhen völkerrechtlich weiterhin gehören. Keiner der zwölf Kinder war Israeli, auch wenn israelische Medien und Politiker:innen das behaupteten. Wie im Westjordanland fördert Israel auch auf den Golanhöhen die Ansiedelung jüdischer Siedler:innen, während drusische Ortschaften benachteiligt und vernachlässigt werden. Jetzt aber kam Netanyahu nach Majdal Shams, um vor laufenden Kameras zu erklären: »Diese Kinder sind unsere Kinder«. Israel müsse den Tod »dieser reinen Seelen« rächen, für den der Iran und die Hisbollah die Verantwortung hätten.
Das alles geschah jedoch gegen den ausdrücklichen Wunsch der Betroffenen vor Ort. Nur weil Netanyahus Sicherheitskräfte wütende Einwohner:innen auf Abstand hielten, konnte er seine falsche Anteilnahme in die Welt heucheln. In dem offiziellen Video ist nichts zu sehen von den Protesten und den Plakaten, die Netanyahu als Kriegsverbrecher und Mörder bezeichnen. Jaber Jadvan, Vorsitzender der drusischen Behörden, hatte zuvor alle israelische Politiker:innen explizit darum gebeten, der Beerdigung fernzubleiben und »das Massaker nicht in ein politisches Event« zu verwandeln. Man wünsche sich eine ruhige religiöse Beerdigung. Mehr als ein Dutzend Politiker:innen aus Regierung und Opposition ignorierten diese Bitte, kamen trotzdem und wurden mit Protest begrüßt. Den Finanzminister Bezalel Smotrich, den Wirtschaftsminister und die Umweltministerin jagten die Bewohner:innen gleich ganz aus Majdal Shams.
Nach der Beerdigung veröffentlichten die religiösen und weltlichen Führer der drusischen Gemeinschaft in Majdal Shams erneut eine Erklärung: »Wir weisen den Versuch zurück, auf Kosten des Bluts unserer Kinder den Namen Majdal Shams als politische Plattform zu missbrauchen. Der drusische Glaube verbietet das Töten und die Rache in jeder Form. Nicht ein einziger Blutstropfen soll vergossen werden unter dem Vorwand, unsere Kinder zu rächen.«
Davon unbeeindruckt startete auf Social Media die Kampagne mit dem Hashtag »All Eyes on Majdal« und missbrauchte dennoch den Namen des Ortes. Der Hashtag spiegelt die Kampagne »All Eyes on Rafah« gegen den israelischen Einmarsch in Rafah, stellt Israel als das eigentliche Opfer dar und soll so den Genozid legitimieren. Der Tod der Kinder war auch für die israelische Zeitung Jerusalem Post eine »entscheidende Gelegenheit, um fehlerhafte Ansichten über Israel und seine Feinden zu korrigieren«. Der Welt müsse »das Böse der Hisbollah kristallklar« vor Augen geführt werden. Präsident Isaac Herzog sprach von einer »Terrororganisation«, die die Kinder »brutal attackiert und ermordet habe«, laut Außenminister Israel Katz habe sie »absichtlich auf Zivilisten geschossen« und auch der israelische Generalstabschef Herzi Halevi war sich sicher, Hisbollah »will Zivilisten töten, will Kinder töten«. Einen Beweis für die Verantwortung Hisbollahs oder gar ihre Absicht blieben sie schuldig. Zudem ignorierten sie die große Einigkeit unter Analyst:innen darüber, dass der Vorfall höchstwahrscheinlich ein Unfall war.
Der Kontext der Gewalt
Die Hisbollah hat seit dem 8. Oktober 2023, mit Beginn der Bombardierung Gazas nach der Hamas-Offensive am Tag zuvor, mehrmals täglich israelische Militäreinrichtungen und Truppen beschossen, um den palästinensischen Widerstand zu unterstützen. In zehn Monaten starben dabei 13 Zivilist:innen. Jedes Mal galt der Angriff einem militärischen Ziel, drei Zivilisten starben, während sie Arbeiten für die Armee verrichteten. Der Beschuss der Hisbollah hat Israel gezwungen, eine starke Armeepräsenz im Norden aufrechtzuerhalten. Das kostet Ressourcen, die die Armee nicht in Gaza einsetzen kann. Die Evakuierung von ca. 90.000 Israelis verursacht zudem laufend Kosten und innenpolitischen Druck auf die Regierung. Ein weiteres Ziel Hisbollahs ist es, immer wieder einzelne Aspekte seiner modernisierten militärischen Fähigkeiten zu demonstrieren, um Israel von einer größeren Offensive gegen den Libanon abzuhalten. So hat die Organisation Bilder veröffentlicht, die Drohnen unentdeckt über Haifa und einem Militärflughafen gefilmt haben, nachdem sie die israelische Abwehr umgangen hatten. Die Hisbollah hat immer wieder betont, dass sie alle Kampfhandlungen sofort stoppen wird, sobald Israel einem Waffenstillstand in Gaza zustimmt und den Genozid beendet.
Die israelische Regierung weigert sich, das zu tun, und auch eine Mehrheit der Israelis befürwortet in Umfragen eine Fortführung des Kriegs. Die fortwährenden Verbrechen der Armee ignorieren, leugnen oder rechtfertigen die meisten israelischen Medien währenddessen. Videos von israelischen Soldaten, die Menschen in Gaza demütigen und ganze Straßenzüge sprengen, sind in den sozialen Medien viral gegangen. Aktuell demonstrieren rechte Israelis gegen eine Verurteilung und Bestrafung von zehn Soldaten, die einen palästinensischen Gefangenen brutal vergewaltigt haben. Politiker der Regierungsparteien fordern öffentlich das Recht auf Folter, Missbrauch und Vergewaltigung in israelischen Gefängnissen.
Die Betroffenheitsäußerungen der israelischen Politik und Zivilgesellschaft über den Raketeneinschlag in Majdal Shams wirken im Kontext der kaltschnäuzigen Gewaltexzesse gegen Palästinenser:innen sehr befremdlich. Kriegsminister Yoav Gallant verkündete in Majdal Shams, ein »ermordetes jüdisches Kind« und ein »ermordetes drusisches Kind« seien gleich und bescheinigte sich so eine allgemeine Menschlichkeit über ethnische Grenzen hinweg. Diese gilt aber offensichtlich nicht für die Kinder in Gaza, die er als »menschliche Tiere« zum Abschuss freigab. Schon in den ersten vier Monaten des Genozids hat Israel im Gazastreifen mehr Kinder getötet als in den letzten vier Jahren in allen Konflikten zusammen weltweit gestorben sind. Genauso wenig galten Gallants Worte den Kindern im Libanon, dem er drohte, »was wir in Gaza tun, können wir auch in Beirut tun«. Es ist entmenschlichender Rassismus, der es vielen Israelis erlaubt, inmitten der Gewalt zielgenau nur vom Tod der »israelischen« Kinder schockiert zu sein.
Eskalation gegen den Libanon
Die israelische Politik hat diesen Rassismus zu grausamen Zynismus gesteigert. In dem gewaltsamen Tod der zwölf Kinder sah sie die »Gelegenheit«, um in den Worten von Außenminister Katz einen »totalen Krieg« gegen die Hisbollah vorzubereiten. Smotrich forderte explizit »der Libanon als Ganzes muss den Preis bezahlen«, und der israelische Parlamentsabgeordnete Michel Buskila wütete »reißt Beirut in Stücke«. Auch ein bekannter israelischer Sänger – Idan Ameni – kommentierte: »Israel muss grausam und mit Stärke auf die Ermordung unserer Kinder reagieren […] brecht ihre Knochen!«.
Der darauf folgende israelische Luftschlag auf ein Wohnhaus in Beirut tötete neben Fuad Shukr fünf Zivilist:innen, davon zwei Kinder. 80 Menschen wurden verletzt. Schon das ist eine Eskalation. Noch gefährlicher ist die weitere Eskalation, die Israel so vorbereitet hat. Die Hisbollah wird versuchen, mit einem Gegenschlag die Abschreckung wiederherzustellen, ohne es der israelischen Kriegspropaganda allzu leicht zu machen. Die Entscheidung über einen größeren Krieg liegt dennoch bei der israelischen Regierung. Sie wird sich dabei nach der innenpolitischen Lage, der Risikoabschätzung der Armee und dem Grad der westlichen Unterstützung richten.
Bestellter Beifall des Zionismus im Westen
Alle Politiker:innen und Medien im Westen, die diese zynische Show unterstützt und beklatscht haben, sind mitschuldig an der drohenden Eskalation. Direkt nach dem Vorfall betonte US-Außenminister Anthony Blinken gebetsmühlenartig »Israels Recht, seine Bürger vor Terrorangriffen zu schützen«. Es ist dasselbe »Selbstverteidigungsrecht«, mit dem der Westen seit zehn Monaten den israelischen Genozid deckt. Wenn Politiker:innen wie Annalena Baerbock von »perfiden Angriffen« der Hisbollah sprechen und im selben Atemzug das »Selbstverteidigungsrecht Israels« geltend machen wollen, legitimieren sie den nächsten eskalierenden Gewaltakt.
Die Legitimationsstrategie dahinter ist so alt wie der Kolonialismus selbst. Die Kolonialherren bringen die »Zivilisation«, die sie dann vor der »Barbarei« der ansässigen Bevölkerung verteidigen müssen. Dadurch erscheint die koloniale Gewalt immer als »zivilisiert«, der Widerstand dagegen hingegen als »babarisch«, als »Massaker« und »Terrorismus«. Schon der Vater des Zionismus Theodor Herzl beschrieb sein Projekt als »ein Stück des Walles gegen Asien«, man würde »den Vorpostendienst der Kultur gegen die Barbarei besorgen«. In einer Werbeansprache in London 1899 führte Herzl aus, dass doch gerade »hier in England die zionistische Idee, die eine coloniale ist, leicht und rasch verstanden werden muss, und zwar in ihrer modernsten Form.« Das Vorbild eines ‘modernen’ Kolonialismus war für ihn die britische Kolonie in Südafrika unter Cecile Rhodes, wo die fortschrittlichsten Technologien beim Goldabbau angewandt und die lokale Bevölkerung mit Maschinengewehren niedergemacht wurde (S.2-5,11). Koloniale Strategien und koloniale Diskurse prägen die gesamte israelische Geschichte bis heute. So hat der ehemalige Premierminister Ehud Barak die Metapher von Israel als »Villa im Dschungel« geprägt, die unter anderem Netanyahu weiterhin gerne verwendet. Netanyahu selbst bezeichnete den israelischen Genozid in Gaza als Kampf zwischen den »Kindern des Lichts« und den »Kindern der Dunkelheit«. Die klare Aufteilung in »gute« und »böse« Menschen überdeckt alle moralischen Fragen zu deren Handeln. Die »Guten« tun selbstverständlich nur Gutes und die »Bösen« immer Böses.
Die Aufrufe zur »Besonnenheit« an »alle Seiten«, wie sie seit den politischen Morden in Beirut und Teheran von westlichen Politiker:innen wieder zu hören sind, sind Teil dieses Legitimationsdiskurses. Zwar wollen sie wohl tatsächlich keinen umfassenden regionalen Krieg riskieren, das hat bisher aber nicht dazu geführt, dass die USA, Deutschland oder irgendein westlicher Staat der israelischen Eskalation irgendetwas entgegengesetzt hätte. Im Gegenteil: Mit Verweis auf das »Selbstverteidigungsrecht« haben sie die Angriffe auf Beirut und Teheran schon vorab legitimiert. Auch danach bestätigte der US-Vertreter vor der UN, Selbstverteidigung sei »exakt, was [Israel] getan« habe. Sie geben dem Angreifer grünes Licht, um dann die Angegriffenen dazu aufzurufen, sich bloß nicht zu wehren. An den Iran und die Hisbollah ist das eine drohende Aufforderung, sich unterzuordnen, im Zweifel auch die andere Wange hinzuhalten. Das Angebot des Irans, auf einen Gegenschlag zu verzichten, wenn westliche Staaten bereit seien, den israelischen Angriff zu verurteilen, ignorierten diese kollektiv.
Für ein Ende der Gewalt, nicht nur in Majdal Shams
Der Tod der Kinder in Majdal Shams ist schrecklich, ganz unabhängig davon, wer die Rakete abgefeuert hat. Sie starben im Kreuzfeuer zwischen der Hisbollah und der israelischen Armee. Die ständige Gewalt in der Region gehört zum Kern des zionistischen Projekts. Der Zionismus wollte von Anfang an Gebiete erobern und die dort vorhandenen Gesellschaften zerstören. Auf den Trümmern versuchen Zionist:innen bis heute eine ethnisch möglichst »reine« Siedlergesellschaft zu errichten. Gewalt, Vertreibung und Mord sind dafür zwingend nötig.
Die militärische Hochrüstung Israels als Vorposten des westlichen Imperialismus versorgt das zionistische Projekt mit den dafür nötigen Mitteln. Israel weigert sich bis heute, seine Grenzen festzulegen. Die Annexionspläne für das Westjordanland sowie die aktuelle Forderung, den Gazastreifen zu entvölkern und jüdisch zu besiedeln, zeigen den zionistischen Expansionsdrang.
Die Angegriffenen werden immer mit Widerstand antworten. Auch die Hisbollah ist eine Reaktion auf die israelische Besatzung im Libanon zwischen 1982 und 2000. Die koloniale Gewalt wiederum wird nicht aufhören, bis sie die ansässige Bevölkerung im Siedlungsgebiet auf eine kleine kontrollierbare Gruppe reduziert hat. Das war das Schicksal der Aborigines in Australien wie auch der Natives in den USA und Kanada. Um das zu verhindern, müssen wir das Kolonialprojekt Israel stoppen, zugunsten der Perspektive einer Gesellschaft, in der alle in der Region lebenden Menschen frei von Unterdrückung sind. Erst dann werden keine Kinder mehr durch Raketen sterben – keine drusischen, keine jüdischen und auch keine palästinensischen.
Titelbild: invictapalestina.org