Antonio Negri

In Erinnerung an Toni Negri (1933 – 2023)

Toni Negris Ideen entstanden aus den Kämpfen der Arbeiter und Studenten in den 1960er und 70er Jahren – und ihrem Scheitern, sich durchzusetzen. Ein Nachruf von Alex Callinicos

Toni Negri, der diesen Monat im Alter von 90 Jahren verstorben ist, war der einflussreichste marxistische Denker, der während der sozialen und politischen Revolten der 1960er und 1970er Jahre aus Italien hervorging.

Die Radikalisierung von Arbeitern und Studenten ließ die größte linke Partei Europas entstehen

Abgesehen von der portugiesischen Revolution erreichten die Kämpfe jener Jahre ihren Höhepunkt in Italien. Eine Studentenrevolte mündete in eine Welle wilder Streiks während des heißen Herbstes von 1969. Die Radikalisierung von Arbeitern und Studenten ließ die größte linke Partei Europas entstehen.

Negri gehörte zu einer Gruppe junger linker Intellektueller, die diese Entwicklung vorwegnahmen. Sie wollten aus dem ausbrechen, was der in diesem Sommer verstorbene Mario Tronti als „den versteinerten Wald des Vulgärmarxismus“ bezeichnete, der von den reformistischen kommunistischen und sozialistischen Parteien praktiziert wurde.

Tronti formulierte in seinem bahnbrechenden Buch „Arbeiter und Kapital“ (1966) die grundlegende These dessen, was später als „Operaismus“ bezeichnet wurde. „Auch wir betrachteten zunächst die kapitalistische Entwicklung und erst dann die Arbeiter“, schrieb er. „Das war ein Fehler. Jetzt müssen wir das Problem auf den Kopf stellen, die Orientierung ändern und wieder bei den Grundsätzen beginnen, was bedeutet, vom Kampf der Arbeiterklasse auszugehen… die kapitalistische Entwicklung ist den Kämpfen der Arbeiterklasse untergeordnet.“

Obwohl er Akademiker war, verfolgte Negri die Arbeiterbewegung in den Chemiefabriken von Porto Marghera bei Venedig. Er half bei der Gründung mehrerer revolutionärer Organisationen.

Doch in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre begann die italienische herrschende Klasse, die Situation zu stabilisieren. Dabei half ihr der „historische Kompromiss“ zwischen der herrschenden Christdemokratie und der Kommunistischen Partei. Währenddessen verfolgten die extreme Rechte und ihre Verbündeten in Polizei und Geheimdiensten eine gewalttätige „Strategie der Spannung“.

Negris Reaktion auf die „Strategie der Spannung“

Negri gehörte zu denjenigen in der radikalen Linken, die darauf reagierten, indem sie die organisierte Arbeiterklasse als ein Hindernis für die Revolution betrachteten. Andere wandten sich dem Terrorismus zu. Dies gipfelte in der Entführung und Ermordung des ehemaligen Ministerpräsidenten Aldo Moro im Jahr 1978. Negri wurde dafür angeklagt und schließlich zu 34 Jahren Gefängnis verurteilt. Zwischen den Gefängnisaufenthalten verbrachte er 14 Jahre im Exil in Frankreich. Im Jahr 2003 wurde er schließlich freigelassen.

Zu diesem Zeitpunkt hatte Negri bereits ein weltweites Publikum. Vom Gefängnis aus schrieb er zusammen mit dem US-amerikanischen kritischen Theoretiker Michael Hardt das Buch „Empire“. Darin bietet er eine marxistische Analyse der neoliberalen Globalisierung des Kapitalismus in den 1990er Jahren. Es erschien im Jahr 2000, kurz nachdem mit den Massenprotesten gegen den Gipfel der Welthandelsorganisation in Seattle im November 1999 eine neue antikapitalistische Bewegung entstanden war.

Negris Einfluss war enorm

„Empire“ hatte einen enormen Einfluss auf die Aktivisten, die sich dieser schnell wachsenden Bewegung anschlossen, deren Höhepunkt die großen weltweiten Proteste gegen die Invasion des Irak am 15. Februar 2003 waren.

Der Wert des Buches liegt darin, dass es versucht, diese neuen Kämpfe in einen Marxismus einzuordnen, der während des Aufschwungs in den 1960er und 1970er Jahren entwickelt wurde. Es ist auch von einem heiteren Optimismus durchdrungen, der in den berühmten Schlusszeilen zum Ausdruck kommt, die „eine Revolution ankündigen, die keine Macht kontrollieren wird… Das ist die unbändige Leichtigkeit und Freude, Kommunist zu sein.“

Es ist Hardt und Negri hoch anzurechnen, dass sie die Relevanz des Marx’schen Denkens zu einer Zeit unter Beweis gestellt haben, in der er nach dem Fall der Berliner Mauer 1989 als toter Hund abgetan worden war. Doch „Empire“ und die Fortsetzungen „Multitude“ (2004) und „Commonwealth“ (2010) litten unter zwei schwerwiegenden Schwächen.

Die Schwächen von Negris und Hardts Argumentation

Erstens argumentierten Hardt und Negri, dass „der Imperialismus vorbei ist“. Der Kapitalismus, so argumentierten sie, habe den Nationalstaat überwunden und sei zu einer „transnationalen Netzwerkmacht“ geworden. Sie konnten nicht vorhersehen, dass die Globalisierung des Kapitals zu einer neuen Ära des geopolitischen Wettbewerbs zwischen imperialistischen Mächten führen würde, die wir jetzt erleben.

Zweitens vertraten Hardt und Negri die Ansicht, dass die Arbeiterklasse durch eine eher unstrukturierte „Masse“ all derer ersetzt worden sei, die vom Kapital beherrscht werden. Sie warfen wichtige Fragen dazu auf, wie sich die Arbeiterklasse in der neoliberalen Ära verändert hat, aber sie übersahen, dass das Kapital weiterhin auf die Ausbeutung der Lohnarbeit angewiesen ist.

Toni und ich debattierten diese Frage kurz nach seiner Entlassung vor einem großen und begeisterten Publikum auf dem Europäischen Sozialforum in Paris im Oktober 2003. Er war ein hervorragender Redner, wenn auch mild und höflich im Gespräch.

Aber dieses Auftreten täuschte über die politische Stärke hinweg, die ihn durch das Gefängnis begleitete und dazu beitrug, dass der Marxismus bis ins 21. Jahrhundert nichts an Wichtigkeit verloren hat.

Dieser Nachruf ist im Dezember 2023 bei socialistworker.co.uk erschienen

Übersetzt von Marijam Sariaslani

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Titelbild: Christian Werner/Alexandra Weltz