Ukraine: Nach Protesten bleibt die Antikorruptionsbehörde bestehen

Am Donnerstag, den 24.Juli, kam es in der Ukraine landesweit zu den größten Protesten seit der russischen Invasion. Wir sprachen mit Michael Beck zu den Hintergründen.


Bannertext: »Wie viel ist ihre Unterschrift wert, President?«


Sozialismus von unten: Seit Donnerstag, dem 24.Juli, kommt es in der Ukraine landesweit zu den größten Protesten seit der russischen Invasion. Worum geht es den Menschen?

Michael: Die Proteste sind eine Reaktion auf die Unterordnung der landesweiten Anti-Korruptionsbehörden (NABU und SAPO) zur Generalstaatsanwaltschaft der Ukraine. Damit wären die zwei großen und an sich unabhängigen Institutionen für den Kampf gegen Korruption offen politisch kontrolliert.

Wer geht aktuell auf die Straßen?

Nachdem Selensky am Freitagabend (25.Juli) bekannt gab, diese Gesetze wieder ändern zu wollen, sind die Proteste vorerst abgeflacht. 

Die Basis der Proteste war ein Querschnitt der Bevölkerung mit der Forderung, die politische Unabhängigkeit der Behörden zur Korruptionsbekämpfung. Wichtig ist jedoch, dass diese Institutionen offiziell auch gegen den Handel mit und zur Unterbindung der Einflussnahme von Russland verstanden werden. Konkret gingen sie auch gegen Regierungsvertreter:innen und Oligarchen vor.  

Interessant in Bezug auf die Proteste war jedoch, dass beispielsweise in Lviv die Proteste mit dem Slogan »Wer nicht hüpft ist Moskovit!« begleitet wurden. Mit »Moskovit« werden alle Unterstützer:innen Russlands (oder auch Kriegsgegner:innen) bezeichnet, gemeint ist damit allerdings Vaterlandsverrat. Ein Vorwurf, der auch indirekt gegen Selensky gerichtet ist.

Besonders bizarr: Als der Gesetzesentwurf ins Parlament eingebracht wurde, befand sich dieser bereits in der zweiten Lesung, ohne dass Parlamentarier:innen davon mitbekommen hatten. Was wurde mit dem Gesetz geändert?

Konkret hat mit diesem Gesetz die Generalstaatsanwaltschaft die Kontrolle und Einsicht über die Arbeit der Anti-Korruptionsbehörden. Damit können nicht nur Mitarbeiter angewiesen werden, bestehende Ermittlungen auszusetzen, sondern auch gegen bestimmte Personen aufzunehmen. Inwiefern dies wieder zurückgekommen werden soll und wann das passieren soll, ist noch offen. 

Im ukrainischen Parlament gibt es immer wieder Abläufe, die für Verwunderung sorgen, seien es Mitglieder von Selenskys Regierungsfraktion, die seine Gesetze mit hunderten bis tausenden Änderungsanträgen verzögernverschieben, die kurzfristige Ankündigung von Gesetzesentwürfen wie im aktuellen Fall oder ein Hin und Her bei der Erlassung von Gesetzen.

Wie nehmen die Ukrainer:innen die Korruption in ihrem Land wahr?

Grundsätzlich ist es wie in vielen post-sowjetischen / staatskapitalistischen Ländern so, dass Korruption im Alltag dazugehört. Egal ob Termine im Gesundheitswesen, bei Behördengängen oder in Konfrontation mit der Polizei: Ein oder zwei Scheine zwischen den Formularen oder hinter dem Ausweis sparen Zeit und oft auch negative Konsequenzen. 

In der ukrainischen Politik ist Korruption kein Geheimnis, eher eine Realität, die schon immer so war. So wie der Lobbyismus von Konzernen in Deutschland kein Geheimnis ist, hat die Ukraine Zeitungen, Fernseh- und Radiosender in der privaten Hand der Oligarchie. Es klingt fast schon surreal, dass ein Oligarch die Macht hat, eine fiktive Partei mit einem fiktiven Präsidenten aus einer Sitcom Realität werden zu lassen. Dennoch ist genau das mit Selenky in der Ukraine passiert. 

Genauso hat es sich auch in der Vergangenheit gezeigt, dass einzelne Abgeordnete sich nicht von Parteizugehörigkeit oder Fraktionsmitgliedschaft beeinflussen lassen und lieber die Wünsche ihrer Geldgeber im Parlament verkünden oder beantragen. 

Der militärische Apparat ist genauso korrupt wie alles andere auch: Wer eine Zwangseinberufung umgehen möchte, kann sich schlicht Freikaufen.

Oder mit gefälschten Dokumenten ausreisen. Oder man ist der Sohn eines Politikers, eines Oligarchen oder eines hohen Beamten. So etwa der Sohn des ehemaligen ukrainischen Botschafters in Deutschland, Melnyk: Sein Sohn durfte ohne Zwang in Berlin studieren, während Männer in der Heimat aus ihren Autos gezerrt oder direkt vom Arbeitsplatz eingezogen werden. 

Wer Geld hat, muss nicht im Schlamm die »Freiheit« verteidigen, sondern hat die Freiheit, andere sterben zu lassen. Diese Ungerechtigkeit ist allgemein bekannt, aber ist nur ein Teil des Sumpfes, in dem die arbeitende und mittellose Bevölkerung seit Jahrzehnten hängt.

Wie ist dieses Gesetz zu verstehen, wenn man sich in Erinnerung ruft, dass die größte Hürde für einen EU-Beitritt der Ukraine die Korruption im Land ist? 

Selensky ist abhängig von der Meinungsmache oligarchischer Medien. Er ist jedoch auch an die militärische Unterstützung der EU und USA gebunden. 

Direkt nach dem Bekanntwerden der Gesetzesänderung hat die EU angekündigt, Gelder auszusetzen und Unterstützung einzufrieren. Für Selensky ist klar: Er muss zwischen dem innenpolitischen, korrupten System der ukrainischen Oligarchie und ihrer Einflussnahme, sowie seiner westlichen Verbündeten genau ausloten, wie er vorgeht.

Das Gesetz und der voreilige Beschluss dazu stehen aktuell auch in einem anderen Kontext: Der stellvertretende Ministerpräsident von Selensky musste diesen Monat erst zurücktreten, nachdem die Anti-Korruptionsbehörden wegen Unterschlagung und Bestechlichkeit gegen ihn ermittelten.

Der Charakter dieses Stellvertreterkrieges in der Ukraine wird um so deutlicher, je mehr man sich die politische Lage in der Ukraine anschaut: Die militärische Unterstützung hängt von innenpolitischen Entscheidungen ab. Bei der Unterstützung der Ukraine geht es nicht um Solidarität oder die Freiheit der Ukrainer:innen, sondern darum, den Staatsapparat vor den Auswirkungen des Krieges zu schützen und um den ukrainischen Markt und seine Rohstoffe nicht an die russische, kapitalistische Klasse zu verlieren. 

Bürgerliche Medien spekulieren über einen zweiten Maidan. Was hältst du davon?

Ich sage klar nein. 

Zum einen, weil die Grundlage der Proteste schon wieder zurückgedreht wird, noch bevor sie an Fahrt aufgenommen haben. Zum anderen, weil ihnen ein sozialer verbindender Charakter fehlt. Die soziale Basis der Protestierenden ist nicht einheitlich und orientiert auf Dinge wie Vaterlandstreue, statt auf gemeinsame politische und ökonomische Interessen. 

Allerdings zeigt der Fehltritt von Selensky eines: Er ist weder »europäischer«, noch standfester gegenüber der kapitalistischen Klasse Oligarchie als seine Vorgänger. Zudem müssen zwei Tatsachen beachtet werden: Einmal, wer in Opposition zum Krieg und zur Aufrüstung steht, hört schnell den Vorwurf des Vaterlandsverrats. Zweitens, die ukrainischen Institutionen sehen im Kampf gegen Korruption einen Kampf gegen die Verbindungen nach Russland und der Einflussnahme der russischen Regierung selbst. Das ist natürlich ein verkürztes Verständnis über kapitalistische Konkurrenz, aber es ist der reale politische Nachhall der Revolution von 2014

Die Proteste auf dem Maidan begannen mit sozialen Forderungen nach Mindestlohn, Sozialhilfe, bezahlbaren Wohnungen und Lebensmitteln. Sie wandelten sich jedoch mit der Bestechlichkeit der Regierung in eine Bewegung, die an erster Stelle eine Änderung der Außenpolitik forderte – eben eine Trennung von Russland und eine Öffnung nach Europa. 

Selensky steht auf dem gleichen wackeligen Bein wie Janukowitsch vor ihm. Genau das zeigt die schnelle Reaktion der Bevölkerung, mehr aber auch nicht. Hoffen auf eine soziale Revolution von unten bleibt in der Ukraine aktuell aus. 

Die Basis der Proteste hat ein klares, nationalistisches Motiv. Es gibt hingegen keine einzige soziale Forderung. Sollte es dazu kommen, wird erneut ein Präsident aus dem Land gejagt werden – das weiß Selensky. Deswegen wurde das Gesetz so schnell zurückgezogen.

Wie kann deiner Meinung nach der ukrainische Nationalismus in eine Klassensolidarität mit sozialem Charakter und Forderungen übergehen?

Zunächst ist es wichtig, dass die ukrainischen Arbeiter:innen sich als Klasse verstehen: Egal ob sie sich ethnisch ukrainisch, russisch, rumänisch, polnisch oder tartarisch bezeichnen: Ihre ökonomischen Interessen sind identisch! Ein baldiges Ende des Kriegs, ein Stopp des Ausverkaufs der Ressourcen und der Infrastruktur und ein Ende des Systems der Oligarchen und ihrer handzahmen Präsidenten in Kiew. 

Es gibt in diesem Krieg eine ukrainische Arbeiter:innenklasse, die aufgerieben wird zwischen russischen Angriffen und der Mobilmachung ihrer eigenen Regierung. Die Proteste gegen staatliche Willkür müssen die Ideen des Vaterlandsverrats ablegen und ihre Interessen gegen die der Politiker:innen halten, die sich ohne schlechtes Gewissen von Mobilmachung oder Verzicht freikaufen können. Dies geschieht aber nicht nur dadurch, das Richtige zu sagen. Die Menschen müssen in den Auseinandersetzungen um ihre eigenen Interessen Erfahrungen der gemeinsamen Klasseninteressen machen. Davon hängt vieles ab.

Danke für deine Zeit.


Michael Beck ist Sozialist mit Wurzeln in der Ukraine und Russland. 

Die Fragen stellte Simo Dorn.


Titelfoto: hromadske