Die Zwei-Staaten-Lösung ist eine Illusion

Die Illusion von der „Zwei-Staaten-Lösung“

Die „Zwei-Staaten-Lösung“ wird immer wieder als Weg aus dem Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern beschworen. Warum sie bisher nicht umgesetzt wurde, erklärt Carl Schreiber

Die UN-Vollversammlung erklärte am 27. Oktober, „dass eine gerechte und dauerhafte Lösung des israelisch-palästinensischen Konflikts nur […] auf der Grundlage der Zwei-Staaten-Lösung herbeigeführt werden kann“. Auch US-Präsident Joe Biden argumentierte in einem Beitrag in der Washington Post, dass diese „der einzige Weg“ wäre.

Alle wesentlichen palästinensischen Organisationen haben sich auf die „Zwei-Staaten-Lösung“ als Ziel festgelegt: Die Palästinensische Befreiungsorganisation (PLO) bereits 1988 und selbst der Islamische Widerstand (Hamas) hat seine Charta 2005 entsprechend geändert. Auch mehrere israelische Regierungen haben sich in den letzten Jahrzehnten zu einer „Zwei-Staaten-Lösung“ bekannt, auch wenn die an diesen Regierungen beteiligten Parteien bei den letzten Parlamentswahlen zusammen nicht einmal mehr auf 20 Prozent gekommen sind.

Was spricht für die „Zwei-Staaten-Lösung“?

Und es gibt einige Argumente, die auf den ersten Blick für die „Zwei-Staaten-Lösung“ sprechen: Erstens entspricht sie dem Völkerrecht, denn man kann sich auf den UN-Teilungsplan von 1947 berufen. Zweitens klingt es nach einer praktikablen Lösung, die hauptsächlich an „technischen“ Fragen hängt und von entschiedenen, „durchsetzungsstarken“ Politiker:innen umgesetzt werden könnte, wenn nur alle Seiten bereit zu Kompromissen wären. Und drittens erscheint es nur natürlich, dass zwei nationale Bewegungen, die sich um ein Stück Land streiten, sich auf eine Teilung des Landes einigen müssen. Die Wahrheit könnte kaum weiter davon entfernt sein.

Niemand erwartet aktuell, dass eine „Zwei-Staaten-Lösung“ auch nur annähernd so aussieht, wie es der Teilungsplan damals vorsah. Darin vorgesehen war eine territoriale Aufteilung des Landes zu etwa 55 Prozent für Israel und 45 Prozent für Palästina, Bewegungsfreiheit aller Bewohner:innen, eine Wirtschaftsunion und Jerusalem als gemeinsam verwaltete Hauptstadt beider Staaten.

Radikale Forderungen

Der einzige bisherige konkrete Vorschlag einer israelischen Regierung kam vom damaligen israelischen Ministerpräsidenten Ehud Barak bei den Verhandlungen in Camp David im Jahr 2000. Darin vorgesehen war eine Aufteilung des Landes entsprechend der bestehenden territorialen Größenordnungen, also 78 Prozent für Israel und 22 Prozent für Palästina. Allerdings sollte die Verteilung nicht entlang der Waffenstillstandslinie von 1949, der sogenannten „Green Line“, verlaufen, sondern mit einem „Landtausch“ („land swap“) einhergehen. Barak beanspruchte komplett Jerusalem, inklusive dem Siedlundsring um Ost-Jerusalem (Male Adunim und andere Siedlungen) sowie „grenznahe“ israelische Siedlungen im nördlichen Westjordanland für Israel.

Für den palästinensischen Staat wollte er im Gegenzug unbewohnte Teile der Negev-Wüste abgeben. Dem Anspruch der Palästinenser:innen auf zumindest Teile von Jerusalem als Hauptstadt wollte Barak durch die Umbenennung des palästinensischen Dorfes Abu Dis östlich von Jerusalem in Jerusalem entsprechen. Barak beharrte auch auf der israelischen Kontrolle des Grenzgebietes zu Jordanien. Der Palästinensische Staat wäre komplett von Israel eingeschlossen gewesen. Was das bedeuten kann, haben wir die letzten Jahre am Gazastreifen sehen können.

Massaker an den Palästinensern ausgeblendet

Westliche Medien und Politiker:innen feierten diesen Vorschlag als großen Durchbruch, ohne jemals auf die Details einzugehen. Und Yassir Arafat, damals Präsident der palästinensischen Autonomiebehörde und langjähriger Vorsitzender der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) verunglimpfte man, weil er sich geweigert hatte, dieses „großzügige Angebot“ anzunehmen. Aber der Hauptgrund für Arafats Ablehnung des Angebots war gar nicht Frage der Landverteilung. Und das macht einen weiteren riesigen Unterschied zur Situation beim UN-Teilungsplan deutlich: Die PLO hätte in diesem Abkommen auf das Rückkehrrecht der vertriebenen Palästinenser:innen und ihrer Nachkommen verzichten müssen. Israel war nicht bereit, den historischen Fakt der Vertreibung von über 700.000 Palästinenser:innen im Zuge des von Israel „Befreiungskrieg“ genannten Massakers 1948 anzuerkennen, geschweige denn, sich der daraus ergebenden Verantwortung zu stellen. Und die PLO hätte sich diese Haltung zu eigen machen müssen und nachträglich die ethnische Säuberung Palästinas legitimieren sollen.

Die zionistische Vorstellung der „Zwei-Staaten-Lösung“

Barak bewegte sich in diesen Verhandlungen absolut im Rahmen dessen, was israelische Politik in den Jahrzehnten zuvor war: Absoluter Anspruch auf ganz Jerusalem als „ungeteilte Hauptstadt“ Israels, kein Abbau von Siedlungen im Westjordanland, militärische Präsenz an der gesamten Grenze zu Jordanien und Ägypten und, als wichtigster Punkt, die kategorische Ablehnung des Rechts auf Rückkehr der palästinensischen Flüchtlinge, wie es die UN-Resolution 194 fordert.

Das Beispiel zeigt, dass die bisherigen Verhandlungen nicht an „technischen Details“ oder „schwachen Politikern“ gescheitert sind, sondern an diametral entgegengesetzten Positionen. Die palästinensische Seite fordert einen lebensfähigen, souveränen palästinensischen Staat mit Ost-Jerusalem als Hauptstadt, Kontrolle über die eigenen Grenzen, territoriale Integrität, Bewegungsfreiheit der Bewohner des Staates innerhalb desselben und die Anerkennung des an ihnen verübten Unrechts durch die Täter, beziehungsweise deren Nachkommen. Über den genauen Grenzverlauf und die praktischen Konsequenzen aus der Anerkennung des Unrechts haben sie sich immer wieder verhandlungsbereit gezeigt. Keine bisherige israelische Regierung und keine im Parlament vertretene israelische Partei ist bereit, diese Forderungen zuzugestehen.

Kolonialer Konflikt

Und das ist kein Ergebnis von Verbohrtheit und keine Frage von „Links“ oder „Rechts“ im israelischen Parteienspektrum. Die Haltung zu einem palästinensischen Staat ergibt sich aus der Entstehungsgeschichte Israels. Es waren europäische Juden, die Israel gründeten, die dem europäischen Antisemitismus und in den 1930er und 1940er Jahren insbesondere dem deutschen Nationalsozialismus zu entkommen suchten. In den späten 1930er Jahren landeten viele in Palästina, weil sie einfach keine Alternative hatten. Ähnliches galt auch für die Überlebenden des Holocaust, die nicht in der antisemitischen Umgebung weiterleben wollten, aus der sie kamen.

Die Aufnahme von Flüchtlingen aus Europa wäre für die palästinensische Bevölkerung gar kein so großes Problem gewesen, auch wenn es sicherlich für Industriestaaten wie Großbritannien oder die USA einfacher gewesen wäre, so viele Flüchtlinge aufzunehmen und zu integrieren. Die westlichen Demokratien hatten aber ihre Grenzen für Flüchtlinge ohne Vermögen geschlossen.

Anspruch auf einen rein jüdischen Staat

Das Problem, das die einheimische Bevölkerung mit den Flüchtlingen hatte, war der Anspruch der zionistischen Bewegung, auf dem Gebiet Palästinas einen jüdischen Staat zu errichten, entsprechend dem zionistischen Slogan: „Ein Land ohne Volk für ein Volk ohne Land“. Die Zionisten waren der Überzeugung, dass Antisemitismus ein unveränderbarer Fakt der menschlichen Existenz sei. Wo auch immer Juden und Nicht-Juden zusammenträfen, müsste es ihrer Meinung nach zu Antisemitismus kommen. Ihre Schlussfolgerung war, dass Juden sich aus den Gemeinschaften, in denen sie über Jahrhunderte gelebt hatten, lösen müssten und an einem anderen Ort ihren eigenen Staat aufbauen müssten. Und dieser Staat sollte, so hatte eine Konferenz von Zionisten Ende des 19. Jahrhunderts beschlossen, Palästina sein.

Karte der Städte und Dörfer in Palästina, die 1948 in der Nakba entvölkert wurden
Eine Karte der Städte und Dörfer in Palästina, 1948 während der Nakba entvölkert

Israel: auf palästinensischem Land gegründet

Und so kamen die jüdischen Einwanderer sowohl als Flüchtlinge als auch als Siedler. Israel wurde also von europäischen Siedlern mit der Hilfe europäischer Kolonialmächte auf palästinensischem Land gegründet – gegen den Willen und trotz Widerstands der einheimischen Bevölkerung. Und aus der Logik des Zionismus folgte auch zwangsläufig die Notwendigkeit, in dieser Kolonie zumindest für eine zahlenmäßige Dominanz der jüdischen Siedler zu sorgen. Da Palästina eine der am dichtesten besiedelten Regionen der Welt außerhalb Europas war, konnte das nur durch massenhafte Vertreibung gelingen.

Diese Geschichte hat in mehrerlei Hinsicht Auswirkungen auf die Frage der Lösung. Zuerst sehen wir, dass es sich nicht einfach um einen Konflikt zwischen zwei Nationalismen handelt, sondern um einen kolonialen Konflikt, also einem zwischen einer Kolonialmacht und einer antikolonialen Bewegung. Das hat nicht nur moralische Implikationen, sondern erklärt auch die strukturelle Asymmetrie des Konfliktes. Die eine Seite stützt sich auf die geballte Macht eines modernen Industriestaates, unterstützt durch mächtige imperialistische Verbündete. Die andere Seite verlegt sich zwangsläufig auf klassische Guerilla-Methoden. Und wie in jedem kolonialen Konflikt kommt die Kolonialmacht als legitim daher, als Vertreterin der Zivilisation, während man die kolonisierte Seite entmenschlicht, ihr die Eigenschaft des Zivilisiertseins abspricht: Der Kampf der Zivilisation gegen die Barbaren.

Die Besiedlung hält an

Ein weiterer Aspekt des kolonialen Charakters des Konfliktes ist, dass der Prozess der Besiedlung noch nicht abgeschlossen ist. Mit anderen Worten, der Zionismus hat sein Ziel noch nicht erreicht, einen (hauptsächlich) jüdischen Staat in dem ganzen beanspruchten Gebiet vom Mittelmeer bis zum Fluss Jordan („From the River to the Sea“) zu errichten. Weil immer neue Wellen von Siedlern in Israel integriert werden wollen, muss immer mehr Land besiedelt werden. Und das bedeutet, die Vertreibung der Palästinenser:innen geht immer weiter. Aktuell am offensichtlichsten im Gazastreifen, aber auch in Ost-Jerusalem und dem Westjordanland. Auch innerhalb Israels gibt es offene Bestrebungen, den etwa zwei Millionen Palästinenser:innen mit israelischem Pass, das Leben so zur Hölle zu machen, dass sie „freiwillig“ ausreisen.

Der koloniale Charakter Israels bindet außerdem die eigene Bevölkerung in einem Maße an den Staat, wie es sonst nicht möglich wäre. Alle leben auf geklautem Land, der Staat ist das gemeinsame Instrument, dieses Land gegen die ursprünglichen Besitzer zu sichern. Das ist offensichtlich für die Siedler:innen im Westjordanland. Aber es betrifft letztlich auch die Bewohner:innen Israels selbst. Denn die Nachfahren der Besitzer des Landes, auf dem die israelischen Städte gebaut worden, existieren noch – meist in Flüchtlingslagern nicht weit von den Israelischen Grenzen entfernt und viele haben noch die Schlüssel ihrer alten Häuser in der Tasche. Von einer Siedlerbevölkerung ist nicht zu erwarten, dass sie ihr Siedlerprojekt aufgeben und das geklaute Land mit den ursprünglichen Bewohnern gerecht teilen werden.

„Eine Lösung wird es nur geben, wenn sich eine Seite durchgesetzt hat“

Und aus der Perspektive der Siedler ist das auch völlig verständlich. Sie sehen täglich, wie sie in begrünten Ortschaften leben, mit funktionierender Infrastruktur, Swimmingpool usw., während auf der anderen Seite des Zauns (oder der acht Meter hohen Mauer) die indigene Bevölkerung ohne Stromversorgung lebt und hofft, dass der Tankwagen mit dem Trinkwasser zwei mal die Woche vorbeikommt. Nirgends treffen die Lebensrealitäten der „Ersten“ und der „Dritten Welt“ so unmittelbar aufeinander wie in Palästina.

Eine Lösung wird es nur geben, wenn sich eine Seite durchgesetzt hat: Entweder die Palästinenser setzen die Entkolonisierung wie in Südafrika 1994 oder Algerien 1962 durch und erkämpfen sich eine gleichberechtigte Existenz in einem gemeinsamen Staat. Nur, wenn Israel seinen Anspruch, ein ethnischer „Judenstaat“ zu sein, aufgibt, und alle Bewohner des Gebietes unabhängig von ihrer Herkunft, Religion, Hautfarbe etc. gleiche Rechte bekommen, löst das den Konflikt auf eine menschliche Weise. Das wird allerdings, angesichts der Machtungleichheit und der Unterstützung Israels durch die westlichen Industriestaaten, nur in einer gemeinsamen Bewegung der Unterdrückten der gesamten Region und mit Unterstützung einer antikolonialen, antiimperialistischen und antikapitalistischen Bewegung weltweit erreicht werden können.

Reservate wie in Nordamerika

Oder der Zionismus erreicht sein Ziel und setzt die praktische Auslöschung der indigenen Bevölkerung, wie in Nordamerika und Australien, durch. Letzteres ist es, was Joe Biden anstrebt, wenn er von Verhandlungen und einer „Zweistaatenlösung“ spricht. Israel solle sich mit Gräueltaten zurückhalten und den internationalen Organisationen die humanitäre Hilfe ermöglichen, und die Palästinenser sollten sich im Gegenzug damit abfinden, dass sie in Restenklaven ihres Landes, wie die nordamerikanischen Ureinwohner in ihren Reservaten, vor sich hinvegetieren. Unter dem Diktat der militärischen Übermacht des Staates Israels kann eine Verhandlungslösung nichts anderes bedeuten.

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Bilder: Heinrich Böll Foundation Palestine & Jordan BasilLeaf