Benjamin Opratko über Leben und Denken eines der bedeutendsten Marxisten des 20. Jahrhunderts: Antonio Gramsci
Als Antonio Gramsci 1917 diese wütenden Worte schrieb, war er 26 Jahre alt und sechs Jahre zuvor aus ärmlichen Verhältnissen von Sardinien nach Turin gekommen, um zu studieren.
Mit einer Gruppe von Freunden, darunter Palmiro Togliatti, Angelo Tasca und Umberto Terracini, hatte er sich bald im Jugendverband der Sozialistischen Partei Italiens (PSI) organisiert, für den er auch diesen Text verfasste. Sein »Hass auf die Gleichgültigen« richtete sich einerseits gegen jene, welche die bürgerliche Gesellschaft als »natürliche«, alternativlose Ordnung darstellten. Er verlieh aber auch der Haltung einer neuen Generation innerhalb der Arbeiterbewegung selbst Ausdruck, die gegen die »mechanische« Geschichtsauffassung opponierte, die damals in der europäischen Sozialdemokratie dominant geworden war. Sozialist zu sein bedeutete für Gramsci, aktiv und organisiert in die Geschichte einzugreifen – nicht, sich auf vermeintlich eherne Gesetzmäßigkeiten des historischen Materialismus zu verlassen, die den Kapitalismus früher oder später schon zu Fall bringen würden.
Gramsci in der Rätebewegung
Im Sommer 1919 besetzten streikende Arbeiter:innen in Turin ihre Fabrik und begannen, die Produktion selbstorganisiert wieder aufzunehmen. Gramsci und seine Genossen, die im Mai 1919 die Zeitschrift »L’Ordine Nuovo« (»Die neue Ordnung«) gegründet hatten, argumentierten, dass eine sozialistische Perspektive nur aus den konkreten Erfahrungen und Kämpfen der Arbeiter:innen entwickelt werden könnte. Sie suchten nach existierenden Formen proletarischer Selbstorganisation, die ähnlich wie die Sowjets in der Russische Revolution zur Grundlage einer neuen Arbeiterdemokratie werden könnten. Als die Kämpfe der Turiner Arbeiter sich ausweiteten, argumentierten sie, dass die »internen Kommissionen« in den Fabriken (bereits existierende Formen betrieblicher Mitbestimmung) solche »embryonale Formen der Arbeitermacht« darstellten. Diese Perspektive traf sich mit den Erfahrungen der streikenden, nach neuen Formen der Selbstorganisation suchenden Arbeiter:innen. Die Transformation der internen Kommissionen in echte Arbeiter:innenräte wurde bald zu ihrer zentralen Forderung.
Aus der Streikwelle wurde eine revolutionäre Erhebung, und Gramsci zu einem zentralen Organisator und Agitator der Turiner Rätebewegung, die bis in den Herbst 1920 andauerte. Sie sollte die am stärksten prägende Erfahrung für Gramscis politische Entwicklung werden. Aus dem energischen, aber noch weitgehend einer idealistischen Philosophie des Voluntarismus verpflichteten Aktivist:innen wurde ein Theoretiker und Stratege der Arbeiter:innenbewegung. Doch es war nicht nur die Beteiligung an den Kämpfen, sondern vor allem die Erfahrung des Scheiterns der Rätebewegung, die Gramscis Perspektive prägen sollte. Das »biennio rosso«, die Jahre 1919 und 1920, als die Turiner Arbeiter:innenklasse de facto weitgehend die Organisation der Produktion und des Alltagslebens in der Stadt übernommen hatte, endete im Herbst 1920 in einer bitteren Niederlage. An seinem Ende stand die Erkenntnis, dass die Rätebewegung nicht nur am Widerstand der straff organisierten Unternehmer Norditaliens gescheitert war, die mit Schlägerbanden und der militärischen Unterstützung des Staates die Bewegung angegriffen hatten, sondern maßgeblich an der eigenen Unfähigkeit, Unterstützung durch weitere Teile der italienischen Arbeiterklasse – insbesondere der Landarbeiterinnen und Landarbeiter – zu erhalten.
Gramsci: Gründer der Kommunistischen Partei
Die Turiner Gruppe um Gramsci musste nun erkennen, dass der Kampf für eine revolutionäre Ausrichtung der PSI aussichtslos erschien. In der historisch entscheidenden Situation hatte sich die Parteiführung gegen die Bewegung entschieden, die die Herrschaft des Kapitals an ihren Wurzeln, in den Betrieben, herausgefordert hatte. Gramsci und seine Genoss:innen zogen daraus die Konsequenz: Am 21. Januar 1921, beschlossen die linken Strömungen der PSI aus der sozialistischen Partei auszutreten und eine eigene Kommunistische Partei Italiens zu gründen. Gramsci wurde in das neue Führungsorgan gewählt und schließlich, im Mai 1922, nach Moskau geschickt, um die neue Partei bei der Kommunistischen Internationale zu vertreten. Während Gramsci in Moskau war und die hitzigen Diskussionen um den Aufbau der nachrevolutionären Sowjetunion miterlebte, bewahrheitete sich in Italien, was »L’Ordine Nuovo« schon im Mai 1920 vorhergesagt hatte. Sollte die Revolution keinen Erfolg haben, werde »eine furchtbare Reaktion der besitzenden Klasse und der regierenden Kaste« folgen, die versuchen würde, »die politischen Kampforganisationen der Arbeiterklasse (…) unerbittlich zu zerschlagen.«
Und so geschah es. Auf dem Rücken der geschlagenen Revolution war der Faschismus an die Macht gelangt und versuchte, sozialistische wie kommunistische Parteien und die Gewerkschaften zu vernichten. Im Jahr 1924 kehrte Gramsci nach Italien zurück, zunächst geschützt durch die ihm formal zustehende parlamentarische Immunität. Doch am 8. November 1926 wurde er – inzwischen zum Vorsitzenden der Kommunistischen Partei gewählt – trotzdem verhaftet und schließlich wegen Hochverrats zu zwanzig Jahren Haft verurteilt. Die politische Niederlage der italienischen Arbeiterbewegung hatte sich zur persönlichen Tragödie einer ihrer herausragenden Protagonisten ausgeweitet. Antonio Gramsci sollte seine Freiheit nicht wieder erlangen. Den Rest seines Lebens verbrachte er im Kerker, am 27. April 1937 starb er im Alter von 46 Jahren in Rom an den Folgen der Haftbedingungen.
Von Faschisten eingesperrt
Während des Prozesses gegen Gramsci sprach der faschistische Staatsanwalt den Zweck der Inhaftierung deutlich aus: »Wir müssen für zwanzig Jahre verhindern, dass dieses Hirn funktioniert!« Doch er erreichte das Gegenteil. Dass heute, mehr als 75 Jahre nach seinem Tod, immer wieder auf Gramsci in politischen Debatten, in Bewegungen, Gewerkschaften und Universitäten Bezug genommen wird, dass seine Theorien diskutiert und seine Perspektiven weiterentwickelt werden, wurde paradoxerweise erst durch die Tragödie seiner letzten Lebensdekade ermöglicht. Er widersetzte sich der privaten und politischen Isolation der Gefangenschaft und beschloss, die Haftzeit für eingehende theoretische Reflexionen seiner politischen Erfahrungen zu nutzen. Er begann, Notizbücher mit Forschungsnotizen zu füllen, die sich mit unterschiedlichsten Themen befassten: Mehr oder weniger kurze Paragraphen zu Geschichte, Kultur, Politik, Philosophie und Ökonomie, vage geordnet nach übergeordneten Forschungsfragen, knapp 3000 handschriftliche Seiten verteilt auf 32 Hefte.
Die Notizen, die in dieser Form nie zur Veröffentlichung vorgesehen waren und unter außergewöhnlichen Bedingungen entstanden – Gramsci hatte keinen Zugriff auf wichtige Literatur, musste häufig Texte aus dem Gedächtnis zitieren und nicht zuletzt seine Sprache so wählen, dass der Gefängniszensor nicht misstrauisch wurde – sind das, was wir heute als Gramscis »Hauptwerk« ansehen. Nach seinem Tod wurden sie nach und nach publiziert, erst in Auswahlbänden, später als Gesamtausgabe. Seit 2002 existieren die »Gefängnishefte« auch komplett auf Deutsch. Ein wahrer Schatz an lebendiger marxistischer Analyse und Theoriebildung, den viele Generationen von linken Aktivisten und Theoretikern aufs Neue entdecken konnten.
Lebendige marxistische Analyse
Eine, ja vielleicht die Leitfrage der Gefängnishefte kann als Fortführung jener Reflexionen betrachtet werden, die Gramsci nach der gescheiterten Rätebewegung von Turin angestellt hatte: Wie können wir die unwahrscheinliche Stabilität der kapitalistischen Ordnung verstehen? Wie werden kapitalistische Verhältnisse über Kämpfe, Krisen und revolutionäre Aufstände hinweg reproduziert?
Gramsci betont dazu in den Gefängnisheften, dass die Herrschenden in modernen kapitalistischen Gesellschaften nicht nur durch Gewalt und Repression herrschen, sondern wesentliche Teile der Gesellschaft führen: Sie integrieren die Beherrschten in ihre »Hegemonie«. Hegemonie – dieser Begriff ist der Dreh- und Angelpunkt von Gramscis politischer Theorie. »Die normale Ausübung von Hegemonie«, schreibt er, »zeichnet sich durch die Kombination von Zwang und Konsens aus, die sich in verschiedener Weise die Waage halten, ohne dass der Zwang zu sehr über den Konsens überwiegt«. Die Macht des Kapitals wird also politisch so organisiert, dass die Einbindung wesentlicher Teile der untergeordneten sozialen Gruppen – Gramsci nennt sie die »Subalternen« – gewährleistet wird.
Zwischen Zwang und Konsens
Wie wird nun diese Balance aus »Zwang und Konsens« organisiert? Gramsci verweist in den Gefängnisheften auf drei Ebenen. Erstens versuchen soziale Gruppen, ihre Partikularinteressen als Interessen der Allgemeinheit zu formulieren. Wenn etwa Prinzipien der Konkurrenz, des Profitstrebens und des Wettbewerbs von breiten Teilen der Gesellschaft in das alltägliche Selbst- und Weltverständnis aufgenommen und Teil des »Alltagsverstands« werden, ist dies ein entscheidender Aspekt der Hegemonie, der als Universalisierung bezeichnet werden kann. Zweitens muss die führende Klasse ihre ureigensten, »ökonomisch-korporativen« Interessen teilweise überwinden und den Subalternen – Arbeiter:innen, Bäuerinnen und Bauern – materielle Zugeständnisse machen. Diese Ebene der Kompromisse kann ebenso in den unterschiedlichen Phasen kapitalistischer Entwicklung analysiert werden – etwa im »fordistischen« Nachkriegseuropa, als Kompromisse über Lohnpolitik, Einbindung von Gewerkschaften oder wohlfahrtstaatliche Infrastruktur organisiert wurden. Schließlich muss dieser Zusammenhang von diskursiver Universalisierung und materiellen Kompromissen staatlich, also auf politisch-institutioneller Ebene abgesichert werden.
Gramsci argumentierte, dass wir den Staat nicht entlang formal-rechtlicher Grenzen verstehen sollten. Wenn der moderne, bürgerliche Staat das Terrain ist, auf dem das Kapital seine Herrschaft als Hegemonie organisiert, dann müssen in der Analyse auch jene Orte und Institutionen zum Staat gerechnet werden, die gemeinhin als »privat« gelten. Zu diesem »privaten Hegemonieapparat« zählt er etwa »die Bibliotheken, die Schulen, die Zirkel und Clubs unterschiedlicher Art, bis hin zur Architektur, zur Anlage der Straßen und zu den Namen derselben«. Gramsci verwendet für den Zusammenhang von Staat im engeren Sinn (den er »politische Gesellschaft« nennt) und Staat in diesem »erweiterten« Sinn (den er »Zivilgesellschaft« nennt) den Ausdruck »integraler Staat«. Die Zivilgesellschaft ist in diesem Sinne kein positives Korrektiv zu Staat und Markt, wie das in vielen Debatten heute angenommen wird, sondern ein Kampfplatz um Hegemonie.
Auf diesen drei Ebenen – Universalisierung, Kompromissbildung und politische Institutionalisierung – wird also nach Gramsci Hegemonie organisiert. Das bedeutet nicht, dass Zwang und Repression im Kapitalismus keine Rolle spielen würden. Polizei und Militär, Gefängnisse und Psychiatrien, Drill in Schulen und Jobcentern und nicht zuletzt der »Stumme Zwang der Verhältnisse«, der die Mehrheit der Menschen zwingt, ihre Arbeitskraft »wie die eigne Haut« zu Markte zu tragen (Marx) – all diese Zwangsverhältnisse sind nur allzu real und aktuell. Sie müssen aber, argumentiert Gramsci, selbst hegemonial abgesichert werden. Die Gewalt der Grenzwachen, Polizisten und Aufseher ist auf gesellschaftlichen Konsens angewiesen. Und dieser kann brüchig werden, wie etwa in erfolgreichen Kampagnen des zivilen Ungehorsams oder wenn es gelingt, bestimmte, lange etablierte Formen patriarchaler Gewalt zu skandalisieren.
Gramscis »organischer Intellektueller«
Diese kurzen Schlaglichter der Theorie der Hegemonie lassen erahnen, weshalb es auch heute noch sinnvoll und produktiv sein kann, sich mit Gramscis Werk zu beschäftigen. Ein Aspekt soll jedoch noch besonders hervorgehoben werden. Er betrifft die Frage, wer denn eigentlich den Konsens der Subalternen herstellt. Gramsci bezeichnet diese Akteure als »organische Intellektuelle«. »Intellektuell« meint in diesem Zusammenhang nicht, dass diese Akteure besonders klug oder belesen wären, sondern dass sie »organisierende Funktionen in weitem Sinne sowohl auf dem Gebiet der Produktion als auch auf dem der Kultur und auf politisch-administrativem Gebiet« ausüben. Abteilungsleiter:innen und Ingenieur:innen, Lehrer:innen, Journalist:innen, Werbetexter:innen oder wer sonst »was mit Medien« macht, organisieren bewusst oder unbewusst den Alltagsverstand, indem sie Weltauffassungen, Selbstverständnisse, Normen und Werte zivilgesellschaftlich ausarbeiten und durchsetzen.
Letztlich ist es aus Gramscis Perspektive das übergeordnete Ziel, die Hegemonie einer sozialistischen Perspektive zu organisieren. Dafür ist es notwendig, eigene organische Intellektuelle hervorzubringen. Für die politische Strategie der Linken bedeutet das, dass es nicht ausreicht, für Demonstrationen und Besetzungen zu mobilisieren oder Streiks zu organisieren. Diese Elemente politischer Strategie müssen durch langfristige Bemühungen ergänzt werden, die auf die Alltagspraxen, gesellschaftlich verbreitete Selbst- und Weltverständnisse, kurz: auf den Alltagsverstand abzielen. Gramsci verwendete für diese Aspekte die Metaphern »Bewegungskrieg« und »Stellungskrieg« – ohne die langfristige Organisierung von letzterem kann ersterer nie über punktuelle Teilerfolge hinaus gelangen, kann wahre Emanzipation nicht gelingen.
Die Herausforderung ist, dass sich das Kapital die eigenen Intellektuellen quasi nebenher selbst schafft. Die Subalternen dagegen, betont Gramsci, müssen ihre eigenen Intellektuellen, ihre Aktivist:innen und Theoretiker:innen, bewusst selbst hervorbringen. Ihre Aufgabe ist es, gegen Passivität und Unterordnung zu agitieren und möglichst viele Menschen zu befähigen, gemeinsam in die Geschichte einzugreifen. Der Hass des jungen Gramsci auf die Gleichgültigen wird so in den Gefängnisheften zur Erkenntnis geformt, dass die Überwindung der Gleichgültigkeit nur kollektiv organisiert werden kann. Der Anspruch jedes sozialistischen Projekts, das diesen Namen verdient, müsse es sein, die »Regierten von den Regierenden intellektuell unabhängig zu machen«. Dafür, so Gramsci, gilt es, sich politisch zu organisieren.
Dieser Artikel erschien erstmals im Juli 2014 auf marx21.de.