Gibt es eine »Imperiale Lebensweise«?

Das Konzept »Imperiale Lebensweise« besagt, dass die allermeisten Menschen hierzulande auf Kosten der Natur und der Arbeitskräfte anderer Weltregionen leben. Stimmt das? Eine marxistische Kritik des einflussreichen Buches und Spiegel-Bestseller

In den letzten zehn Jahren haben Marxist:innen wichtige Beiträge zum Zusammenhang von Kapitalismus und Ökologie veröffentlicht. Es gibt allerdings wenige Arbeiten, die sich explizit mit der Rolle von Imperialismus auseinandersetzen. Ulrich Brands und Markus Wissens Buch »Imperiale Lebensweise« ist eine der Ausnahmen: Sie versuchen zu verstehen, wie Machtdynamiken mit globalen Ungleichheiten und der Klimakrise zusammenhängen. Das Konzept »Imperiale Lebensweise« (ILW) sagt aus, »dass das alltägliche Leben in den kapitalistischen Zentren wesentlich über die Gestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse und der Naturverhältnisse andernorts ermöglicht wird: über den im Prinzip unbegrenzten Zugriff auf das Arbeitsvermögen, die natürlichen Ressourcen und die [CO2-]Senken […] im globalen Maßstab.«

Ein wichtiger Bezugspunkt ist demnach die Dependenztheorie, die die kapitalistische Entwicklung im kapitalistischen Zentrum als Ergebnis der Ausbeutung der Peripherie sieht. Brand und Wissen versuchen, ihr Verständnis der politischen Ökologie von Austauschbeziehungen zu erweitern. Sie analysieren insbesondere Massenkonsum in den Industriestaaten und argumentieren, dass dessen versteckte soziale und ökologische Kosten externalisiert, also in ärmere Länder verlagert würden. Die Idee der Externalisierung wird auch von Stephan Lessenich in seinem Buch »Neben uns die Sintflut« entwickelt. Brand und Wissen zielen jedoch weniger auf die Kritik am individuellen Konsum ab, sondern betonen vielmehr (globale) kapitalistische Strukturen, in die Menschen eingebettet sind. Die internationale Überwindung des Kapitalismus sei der einzige Ausweg.

Das Konzept »Imperiale Lebensweise« wird seit Erscheinen des gleichnamigen Buchs breit rezipiert. Die »Imperiale Lebensweise« wird sowohl auf internationalen akademischen Konferenzen als auch bei Fridays for Future oder innerhalb der Partei DIE LINKE diskutiert. Die »Imperiale Lebensweise« ist attraktiv, weil sie die von vielen als passiv empfundene Haltung der Arbeiter:innenklasse der Industriestaaten beim Angehen der Klimakrise zu erklären scheint und das Leiden der ärmeren Länder in den Mittelpunkt rückt. Strategisch leiten Brand und Wissen daraus eine Alternative zur schwierigen und manchmal ermüdenden revolutionären Klassenpolitik ab.

Wir sind der Meinung, dass die »Imperiale Lebensweise« einen wichtigen Beitrag zur Debatte über die Klimakrise leistet, teilen aber nicht ihre Prämissen und politischen Folgerungen. Auf den folgenden Seiten werden wir zunächst auf Klassen und Konsum eingehen, dann auf globale Ungleichheit und die Rolle von Geopolitik, und schließlich werden wir uns mit den strategischen Überlegungen von Brand und Wissen befassen.

Der Klassencharakter des »Massen«-Konsums

Massenkonsum sei die Grundlage der »Imperiale Lebensweise«. Brands und Wissens Ausgangspunkt ist der Fordismus zwischen den 1950er und 1970er Jahren, in denen erstmals die Konsummuster der Bevölkerungen der Industriestaaten verallgemeinert worden seien. Neoliberale Globalisierung, auf die wir unten näher eingehen, bedeute eine »neuere Vertiefung« dieses Trends und seine Ausweitung auf andere Länder, darunter China. Brand und Wissen berufen sich auf Antonio Gramsci, um deutlich zu machen, dass die »Imperiale Lebensweise« auf »bestimmte[n] geteilte[n] Vorstellungen von »gutem Leben« und gesellschaftlicher Entwicklung« aufbaue. Die Arbeiter:innenklasse teile diese Vorstellungen: Es profitierten »insbesondere die Vermögenden und Eigentümer der Produktionsmittel in den kapitalistischen Zentren, später dann auch große Teile der Lohnabhängigen«. Das Ergebnis sei ein »Klassenkompromiss«.

Das erste Problem dieser Sichtweise besteht darin, dass sie Gefahr läuft, das zu verallgemeinern, was Stefanie Hürtgen eine »mittelschichts-vorgestellt[e] Durchschnittsexistenz« nennt – die weder die üblichen Lebensbedingungen in den Industriestaaten nach dem Zweiten Weltkrieg noch die von heute widerspiegelt.

Imperiale Lebensweise und Autos

Im Mittelpunkt der Analyse von Brand und Wissen steht der Automobilsektor; teilweise wird von den Autoren gar von einer »automobilen Lebensweise« gesprochen. Allerdings wird die Bedeutung des Autos deutlich überschätzt. Ein genauerer Blick auf die Zeit nach dem 2. Weltkrieg zeigt, dass »1970 fast die Hälfte (48 Prozent) aller Haushalte in Großbritannien kein Auto regelmäßig nutzte«. In Frankreich stieg der Autobesitz von 4 Prozent der Bevölkerung im Jahr 1950 auf nur 20 Prozent im Jahr 1965, und in Deutschland stieg er im gleichen Zeitraum von 1 Prozent auf 16 Prozent. Ähnliche Entwicklungen  gab es in den Vereinigten Staaten, obwohl der Massenkonsum hier verbreiteter war.

War der Autokauf bis in die 1960er/70er Jahre noch weit vom Massenkonsum entfernt, sehen die Konsummuster heute kaum anders aus. In Deutschland hat der Pkw-Bestand Mitte der 1990er die 40-Millionen-Grenze überschritten. Seitdem hat sich der Zuwachs deutlich verlangsamt. Darüber hinaus besitzen laut dem Bericht Mobilität in Deutschland immer noch 53 Prozent bzw. 37 Prozent der Haushalte in den beiden untersten sozioökonomischen Statusgruppen kein Auto. 53 Prozent bzw. 47 Prozent derjenigen, die in beiden Gruppen ein Auto besitzen, haben eines, das älter als 10 Jahre ist – kaum ein Beleg für einen weitverbreiteten, gedankenlosen Konsum.

Auch eine ägyptische Arbeiterin, die in einem Slum in Kairo lebt, kauft aus China importierte Kleidung

Später zitieren Brand und Wissen eine Studie des Wuppertal-Instituts, die zu dem Schluss kommt, dass »ausgerechnet die Lebensstilgemeinschaften […] mit der besten Bildung und Einkommenslage und dem höchsten Umweltbewusstsein gleichzeitig  den  höchsten  Ressourcenverbrauch  auf[weisen]«. Die Aussage ist erstaunlich zurückhaltend. Oxfam berichtete, dass der Konsum des reichsten 1 Prozent der Welt im Jahr 2020 doppelt so viel Kohlenstoff ausstieß wie der der ärmsten 50 Prozent. Doch die Reichen für die Klimakrise verantwortlich zu machen, ist nicht ausreichend. Es muss auch danach gefragt werden, warum sie die Möglichkeit haben, diese Zerstörung zu verursachen. Die Antwort liegt in den kapitalistischen Produktionsverhältnissen, die von Brand und Wissen völlig ausgeblendet werden. Kapitalist:innen häufen Reichtum an, weil sie aufgrund ihres Eigentums an den Produktionsmitteln auf die Arbeitskraft anderer zugreifen – während letztere, durch ein geringeres Einkommen und weniger Freizeit, nicht viele Alternativen haben außer ökologisch schädliche Produkte von denselben Kapitalist:innen zu kaufen. Wie Marx in seinem Werk »Elend der Philosophie« schreibt: Das Urteil des Konsumenten »hängt ab von seinen Mitteln und seinen Bedürfnissen. Beide werden durch seine soziale Lage bestimmt, die wiederum selbst abhängt von der allgemeinen sozialen Organisation.« Die Fähigkeit der Reichen, den Planeten zu zerstören, ist also direkt mit der Unfähigkeit der Arbeiter:innenklasse verbunden, ethische und nachhaltige Produkte zu konsumieren.

Imperiale Lebensweise und kapitalistische Akkumulation

Brand und Wissen sind sich bewusst, dass »kapitalistische Akkumulation immer Produktion und Konsum« beinhaltet. In ihrem theoretischen Teil vermeiden sie es jedoch zu beantworten, wie beides zusammenhängt. Ihre empirische Analyse legt nahe, dass Konsum wichtiger ist, da die Idee der ILW darauf aufbaut. Aber anzunehmen, dass Akkumulation wirklich durch die Bedürfnisse von Individuen angetrieben wird, was sich im Gebrauchswert von Waren widerspiegelt, würde bedeuten, wirtschaftsliberale Annahmen zu akzeptieren. Guglielmo Carchedi bringt dagegen die gängige marxistische Sichtweise in »Frontiers of Political Economy« auf den Punkt: »Der Kapitalist interessiert sich für den Gebrauchswert des Produkts nur insofern, als es einen Tauschwert hat (ist). […] Der Tauschwert wiederum ist für die Kapitalisten nur insofern wichtig, als sie damit einen Gewinn erzielen können.« Theoretisch versuchen Brand und Wissen, die wirtschaftsliberale Falle zu umgehen, indem sie darauf hinweisen, dass die Bedürfnisse der Bevölkerung durch Ideologie verursacht werden. Allerdings erklären sie nicht, wer für die Ideologie verantwortlich ist oder wie genau sie Arbeiter:innen beeinflusst – und Umfragen lassen Zweifel aufkommen, ob Ideologie überhaupt einen Einfluss hat: Laut Greenpeace stimmen 70 Prozent der Menschen in Deutschland zu, dass besonders umweltschädliche Produkte verboten werden sollten, 61 Prozent sind bereit, ihr Auto weniger zu benutzen, und laut Umweltbundesamt denken nur 16 Prozent der Menschen in Deutschland, dass Kapitalist:innen genug gegen die Klimakrise tun.

Unser Eindruck ist, dass Brand und Wissen ein Phänomen – Massenkonsum – in den Mittelpunkt stellen, das nur deshalb als drängendes Problem erscheint, weil sie die Tauschbeziehungen von den Produktions- und Klassenverhältnissen isolieren. Sobald diese wieder Teil der Analyse werden, verschwindet der Massenkonsum. Und mit ihm eine verallgemeinerte Lebensweise in den Industriestaaten.

»Globaler Norden«  vs. »Globaler Süden«?

Um das Verhältnis zwischen kapitalistischem Zentrum und ärmeren Staaten zu begreifen, berufen sich Brand und Wissen auf die Dependenztheorie. Sie argumentieren: (1.) Die Lebensbedingungen in den Industriestaaten (und teilweise in China) einerseits und in den peripheren Gebieten andererseits ständen in einem umgekehrten Verhältnis zueinander; (2.) dies liege am ökonomisch und ökologisch ungleichen Tausch oder allgemeiner an der Externalisierung von Kosten in die Peripherie.

Nur: Werden die Produktionsverhältnisse und Klassen wieder eingeführt, bröckelt nicht nur die Idee des Massenkonsums wie oben beschrieben, sondern auch die Behauptung, dass die Lebensbedingungen in einem umgekehrten Verhältnis stünden, wird in Frage gestellt. Die Mehrheit der Menschen ist Teil der internationalen Arbeiter:innenklasse. Der globale Kapitalismus ist jedoch komplexer als ein Nullsummenspiel, bei dem die Verluste des einen Teils die Gewinne des anderen Teils sind.

Ausbeutung in der Peripherie

Die Löhne von Arbeiter:innen in den ärmeren Ländern machen in der Regel nur einen kleinen Teil des Endpreises eines in den Industriestaaten verkauften Produkts aus: Das iPhone 7 hat Lohnkosten von 5 Dollar; die gesamten Herstellungskosten von Nike-Schuhen mit einem Ladenpreis von 100 Dollar betragen nur 25 Dollar. In beiden Beispielen ist der Löwenanteil dessen, was Verbraucher:innen zahlen, Profite der Kapitalist:innen – der nirgendwo auf der Welt auf die unteren Klassen niederregnet. Darüber hinaus garantieren billige Grunderzeugnisse keine besseren Lebensbedingungen für Arbeiter:innen in den Industriestaaten, da die sinkenden Reproduktionskosten von Arbeitskraft den Kapitalist:innen auch einen Grund geben könnten, die Löhne zu senken. Von »Vorteilen« für diejenigen zu sprechen, die billige Produkte kaufen, lässt die Situation der meisten Lohnabhängigen außer Acht und ist völlig abwegig, wenn Menschen in peripheren Ländern einbezogen werden: Auch eine ägyptische Arbeiterin, die in einem Slum in Kairo lebt, kauft aus China importierte Kleidung. Auch sie müsste also laut ILW auf Kosten anderer leben und ein Interesse an der Aufrechterhaltung der »imperialen« Ordnung haben. Kurz gesagt, Brand und Wissen bieten keinen überzeugenden Mechanismus, der erklärt, warum die Lebensbedingungen der unteren Klassen in den Staaten des Zentrums das direkte Ergebnis von Ausbeutung in der Peripherie sind.

Externalisierung und imperiale Lebensweise

Eine daran anschließende Frage ist, ob Externalisierung und ungleicher Tausch eine Verbesserung der Lebensbedingungen in der Peripherie verhindern. Leider befassen sich Brand und Wissen nicht mit dem afrikanischen Kontinent, wo, um nur einen Indikator zu nennen, etwa 85 % der Bevölkerung von weniger als 5,5 Dollar pro Tag lebt. Das Problem ist, dass der Kontinent im Vergleich zu anderen Weltregionen wie Ostasien eine marginale Rolle auf dem Weltmarkt spielt. Die deutschen Auslandsdirektinvestitionen machten 2018 nur 1 Prozent der deutschen Auslandsinvestitionen insgesamt aus und konzentrierten sich stark auf vier Länder: Südafrika, Ägypten, Nigeria und Marokko. Ebenso hat Subsahara-Afrika seinen Anteil an den weltweiten Exporten nach Deutschland zwischen 2005 und 2020 von 1,0 auf nicht wesentlich höhere 1,3 Prozent gesteigert, während seine Importe im gleichen Zeitraum sogar von 1,2 auf 0,9 Prozent zurückgingen. Ähnlich niedrige Zahlen ergeben sich auch für stärker wirtschaftlich auf dem afrikanischen Kontinent tätige Länder wie Frankreich und China.

Die meisten Dependenztheoretiker:innen würden entgegnen, dass der afrikanische Kontinent 30 Prozent der weltweiten Mineralreserven, 8 Prozent der Ölreserven und 7 Prozent der Erdgasreserven beherberge; dass der Export von Primärprodukten (Rohstoffe) das eigentliche Problem sei. Tatsächlich sah aber die chinesische Wirtschaft zu Beginn des Aufstiegs des Landes nicht viel anders aus. Javier Silva-Ruete schreibt für den Internationalen Währungsfonds: »Mitte der 1980er Jahre bestanden fast 90 Prozent der chinesischen Exporte aus Primärprodukten oder Fertigwaren, die auf natürlichen Ressourcen basierten oder wenig Technologie erforderten.« Die Golfstaaten sind ein weiteres Beispiel dafür, dass die Rohstoffindustrie und der Handel mit den Kernstaaten für Wachstum sorgen können. In beiden Fällen hat sich der allgemeine Lebensstandard verbessert; aber die Ungleichheit, eine Folge der kapitalistischen Produktionsverhältnisse, hat zugenommen.

Das bedeutet natürlich nicht, dass der afrikanische Kontinent von massiven sozio-ökologischen Zerstörungen verschont bleibt – und um zu erklären, warum, werden wir im nächsten Teil auf die Rolle des Imperialismus zurückkommen. Unabhängig von den Ursachen wäre es jedoch ein Fehler, nur die Folgen der Klimakrise in den ärmeren Ländern zu beleuchten, da dies die Gefahr birgt, die schrecklichen Folgen an fast allen Orten der Erde zu vernachlässigen. In der tunesischen Küstenstadt Gabès zum Beispiel zerstören Phosphat- und Chemieindustrie Ökosysteme und stellen eine tödliche Bedrohung für die Menschen dar. Gleichzeitig hat die jüngste Überschwemmung in Nordrhein-Westfalen, die in einer Region stattfand, in der der Boden stark vom Tagebau geprägt ist, mehr als 180 Menschen das Leben gekostet und ganze Dörfer zerstört. Auch hier sind die Klassenbeziehungen und nicht der vermeintliche Antagonismus zwischen Nord und Süd der Schlüssel zum Verständnis der Auswirkungen: Es sind die Arbeiter:innen und die unteren Klassen, die leiden, während Kapitalist:innen für die Krise verantwortlich sind und teilweise sogar von der Verschärfung von Konflikten profitieren.

Geopolitik und der Staat

Laut dem Environmental Performance Index, der einen gewissen Anhaltspunkt für das Wohlergehen der Natur je Land bietet, befinden sich sieben der zehn am schlechtesten bewerteten Länder südlich der Sahara, während westeuropäische Länder die obersten zehn Plätze belegen. Wenn dies nicht auf Externalisierung und ungleichen Tausch zurückzuführen ist, was könnte dann den Unterschied erklären? Brand und Wissen würden sicherlich zustimmen, dass die Regierungen der Industriestaaten auf die Klimakrise reagieren, indem sie sich an Erwärmung und Naturkatastrophen anpassen. Dazu kommen staatliche Regulierungen und die Entwicklung »grüner« Technologien. China ergreift ähnliche Maßnahmen – aber den meisten ärmeren Staaten fehlen dazu die Möglichkeiten. In »Tropic of Chaos« fragt Christian Parenti nach den Ursachen und findet heraus: »Im Fall des Klimawandels sind die vorherigen Traumata, die die Bühne für die schlechte Anpassung, die zerstörerische soziale Antwort, bereiten, der Militarismus der Ära des Kalten Krieges und die wirtschaftlichen Pathologien des neoliberalen Kapitalismus.« Damit bietet er einen sinnvollen Ausgangspunkt an.

Seit den 1980er Jahren haben die meisten afrikanischen Staaten Wellen neoliberaler Strukturanpassungen durchlaufen. Das neoliberale Experiment hat jedoch nicht zu nachhaltiger Profitabilität geführt und häufig Konflikte, die auf den Kalten Krieg und den Kolonialismus zurückgehen, weiter geschürt. Dies bildet die Grundlage für die Vorherrschaft von Raubtierkapital und, wenn sich die Lage verschlechtert, für weitere imperialistische Interventionen. Dieser Teufelskreis schwächt die Fähigkeit der Staaten, die Klimakrise zu bewältigen. Gleichzeitig verringert ökologische Zerstörung die Chancen, dass sich die Wirtschaft erholt, Konflikte abklingen und staatliche Kapazitäten wieder aufgebaut werden. Die Wechselwirkung und Verstärkung zwischen den Faktoren sind entscheidend. Sudan und Mali sind aktuelle Paradebeispiele.

Dies bringt uns zu einem grundlegenden Widerspruch in der Art und Weise, wie die herrschenden Klassen auf die Klimakrise reagieren: Ihre »Lösungen« setzen staatliche Einnahmen voraus, die letztlich aus der Kapitalakkumulation stammen. Es geht darum, den Kapitalismus gegen die kapitalistische Zerstörung einzusetzen. Eine Folge davon ist, dass diejenigen, die sich in der internationalen Wirtschaftskonkurrenz durchsetzen, eher in der Lage sein werden, sich gegen die Krise abzuschirmen, während, wenn uns »Squid Game« irgendwas gelehrt hat, der Rest verlieren wird. In seiner empfehlenswerten Kritik »Warum die imperiale Lebensweise die Klassenfrage ausblenden muss« nennt Thomas Sablowski höhere Arbeitsproduktivität als eine wichtige Ursache für die Dominanz des Zentrums. Auf dieser Grundlage hat der Imperialismus aber auch aktiv dazu beigetragen, dass ein Großteil der ärmeren Länder, insbesondere auf dem afrikanischen Kontinent, nicht in der Lage ist, die Voraussetzungen für langfristige Investitionen zu schaffen und sich politisch durchzusetzen.

Das bedeutet nicht, dass Neoliberalismus und Kriege aus den unmittelbaren Interessen von Kapitalfraktionen an billigen Rohstoffen und Arbeitskräften abgeleitet werden könnten. Bei beidem geht es vielmehr um »Grand Strategy« und Geopolitik, die natürlich auch nach dem Kalten Krieg fortbestehen – und in der Arbeit von Brand und Wissen durchweg ignoriert werden. Aus Sicht der US-Außenpolitik stützt globale neoliberale Strukturanpassung die liberale Weltordnung. Politische Bedrohungen wie der Nasserismus oder Panafrikanismus wurden erfolgreich beseitigt und dauerhaft durch pro-westliche Diktaturen ersetzt. Wie bereits erwähnt, zögert das Kapital noch immer, afrikanische Arbeiter:innen auszubeuten, und keine der Diktaturen wurde gezwungen, die weit verbreitete Korruption einzudämmen, die zwar eine gewisse Stabilität gewährleistet, aber der neoliberalen Ideologie widerspricht.

Westliche Militärs und ihre Stellvertreter:innen sind die Hauptakteur:innen im berüchtigten »Krieg gegen den Terror«, der nach dem Ende des Kalten Krieges ausgerufen wurde und vor allem auf dem afrikanischen Kontinent und im Nahen Osten ausgetragen wird. Es überrascht, dass Brand und Wissen diese drastische Form der imperialistischen sozio-ökologischen Zerstörung in den ärmeren Ländern nicht in den Vordergrund stellen. Afghanistan ist das jüngste Beispiel eines Staats, in dem laut Somini Sengupta »die Gefahren des Krieges mit den Gefahren des Klimawandels zusammenkommen und eine alptraumhafte Rückkopplungsschleife schaffen, in welcher die mit am meisten  verletzlichen Menschen der Welt bestraft und die Fähigkeit ihrer Staaten zur Krisenbewältigung zerstört wird.« Und als ob dies nicht schon genug wäre, hat das Militär auch noch einen direkten ökologischen Fußabdruck. Eine kürzlich durchgeführte Studie des Projekts »Costs of War« kam zu dem Schluss, dass »das [US-Verteidigungsministerium] der weltweit größte institutionelle Nutzer von Erdöl und dementsprechend der größte Einzelproduzent von Treibhausgasen in der Welt ist.« Der Umweltsoziologe Kenneth A. Gould bezeichnet die Militarisierung daher zu Recht als »das ökologisch zerstörerischste menschliche Unterfangen«.

»Imperiale Lebensweise« und die Linke: Wie weiter?

Brand und Wissen schreiben, die »Imperiale Lebensweise« sei »widersprüchlich« und »umkämpft«, vermeiden es aber, die Geschichte der darunterliegenden Kämpfe zu analysieren. Sie verweisen lediglich auf die Umweltbewegung der 1960er/70er Jahre – die sie als kooptiert sehen – und auf die Zapatistas in Chiapas, die sich »gegen die neoliberale und globalisierungsvermittelte Vertiefung und Ausweitung der imperialen Lebensweise, gegen kapitalistische Landnahme und die Externalisierung ihrer Kosten«, gewandt hätten. Brand und Wissen formulieren trotzdem eine politische Strategie, die dem »radikalen Reformismus« des deutschen Marxisten Joachim Hirsch nahekommt. Sie warnen vor Vorschlägen, die lediglich den Kapitalismus modernisieren und die ILW unangetastet lassen. Stattdessen sollten linke Aktivitäten außerhalb des Staates – von Landkämpfen in den ärmeren Ländern bis zu den neuen Umweltbewegungen, vom Aktivismus, der das »Recht auf Stadt« einfordert, bis zu »Urban Gardening« – mit Kämpfen innerhalb der Staatsapparate kombiniert werden. Der Aufbau von Solidarität erfordere auch, »das Sichtbarmachen« von Externalisierung durch »Aufklärung und die Einsicht, dass eigene Privilegien auf Ausbeutung und Zerstörung innerhalb der eigenen  Gesellschaft,  aber  eben  auch  ›andernorts‹  basieren«.

Ähnliche Ideen sind in der radikalen Linken des kapitalistischen Zentrums weit verbreitet, und es ist sicherlich eine Stärke von Brand und Wissen, dass sie die internationale Überwindung des Kapitalismus für unabdingbar halten. Doch ihre Strategie gibt revolutionäre Klassenpolitik, die auf der Selbsttätigkeit der Arbeiter:innenklasse beruht, vorschnell auf.

Brand und Wissen wollen den Kapitalismus überwinden, setzen aber nicht auf die Selbsttätigkeit der Arbeiter:innenklasse

Indem Brand und Wissen nach der Passivität der unteren Klassen fragen, spiegeln sie eine Forschungsfrage wider, die dem Programm der Frankfurter Schule nach 1945 nahekommt. Beide finden ähnliche Antworten. In der »Dialektik der Aufklärung« argumentieren Max Horkheimer und Theodor W. Adorno: »Die Konsumenten sind die Arbeiter und Angestellten, die Farmer und Kleinbürger. Die kapitalistische Produktion hält sie mit Leib und Seele so eingeschlossen, daß sie dem, was ihnen geboten wird, widerstandslos verfallen.« Auch für Brand und Wissen wird der Kapitalismus durch Massenkonsum stabilisiert, und dieser bleibe unangefochten, »so lange, als der Reichtum der oberen Klassen den Subalternen als ein zumindest in Ansätzen einlösbares Glücksversprechen erscheint«. Gleichzeitig wird, auch im Gegensatz zu Horkheimer und Adorno, die Überwindung des Kapitalismus als machbar und wünschenswert angesehen. Aber wie kann die Mehrheit der Bevölkerung diese Macht bekommen?

An einigen Stellen wird angedeutet, dass Geld eine wichtige Rolle spielen könnte: »Während sich die einen ihm punktuell auch entziehen können, indem sie etwa regionale und saisonale Lebensmittel kaufen, verfügen andere nur über eine geringe Handlungsfähigkeit, insbesondere wenn es um die Gestaltung ihres Erwerbsarbeitsalltags, des Konsums oder der gesellschaftlichen Verhältnisse geht.« Brand und Wissen erkennen an, dass dieser Weg der globalen Mehrheit derzeit nicht offensteht und den Kapitalismus nur reproduziert. Die meisten Teile des Buchs legen stattdessen nahe, dass Macht in großen Zahlen liege: Eine diverse Masse an Menschen, die sich selbstreflektierend in radikaler Politik engagiert. Wie sie später betonen, könne diese Bewegung auch die Arbeiter:innenklasse umfassen. Letztere wird jedoch nur als eine Gruppe unter vielen anderen betrachtet. Selbst wenn es möglich wäre, den Kapitalismus allein auf Grundlage großer Zahlen – trotz ungelöster Klassenwidersprüche – zu stürzen, würde nichts Neues entstehen.

Im klassischen Marxismus hingegen verleihen die kapitalistischen Produktionsverhältnisse, die von Brand und Wissen leichtfertig vernachlässigt werden, der Arbeiter:innenklasse die einzigartige Kraft, den Kapitalismus zu überwinden und durch ihre eigenen Kämpfe eine neue Ordnung aufzubauen: Sie tragen laut Lenin die »Keimform« einer demokratischen Alternative zu zerstörerischem Wachstum und kapitalistischem Staat in sich. Brand und Wissen würden entgegnen, dass der gegenwärtige Kapitalismus die Selbsttätigkeit der Arbeiter:innen behindere. Deshalb geben sie anderen Gruppen den Vorrang. Aber wie wir oben dargelegt haben, profitieren Arbeiter:innen nicht von sozial-ökologischer Zerstörung. Im Großen und Ganzen beteiligen sich Arbeiter:innen nicht am Massenkonsum; und wir entkräfteten die angeführten Argumente, wonach die Lebensbedingungen im Zentrum und in der Peripherie in einem umgekehrten Verhältnis stünden. Internationale Solidarität ist möglich und sogar die Voraussetzung für die Verbesserung der Lebensbedingungen aller Arbeiter:innen.

Die Selbsttätigkeit der Arbeiter:innenklasse ernst zu nehmen, wäre allerdings mit einer Strategie, die auf eine Transformation mit dem Staat setzt, nicht vereinbar – und sie ist auch kaum machbar. In einem Beitrag für die Zeitschrift LuXemburg stimmt Brand in vielen Punkten mit einem »Green New Deal« überein, wie ihn Bernd Riexinger, ehemaliger Co-Vorsitzender der Partei DIE LINKE, vorschlägt. Dieser Deal beinhaltet tiefe sozial-ökologische Reformen und massive staatliche Investitionen; Brand ist nur dort spürbar unzufrieden, wo die globalen Aspekte der ILW unangesprochen bleiben. Doch er übersieht einen entscheidenden Punkt: Wie bereits erwähnt, brauchen Staaten Kapitalakkumulation. Ein »Green New Deal« – oder jede andere langfristige Transformation mit dem Staat – muss, um erfolgreich zu sein, die Wettbewerbsfähigkeit des Kapitals stärken und die Durchsetzungsfähigkeit auf der internationalen Bühne sichern. Dies untergräbt jeden (Öko-)Sozialismus.

Wir schlagen nicht vor, dass Sozialist:innen die progressiven Reformen ablehnen sollten, die ein »Green New Deal« mit sich bringen kann – aber in der gegenwärtigen Situation wird dies kein großer Schritt nach vorne sein. In ihrem Text »Eine Frage der Taktik« schrieb Rosa Luxemburg, dass es »in erster Linie nicht wauf das Was, sondern auf das Wie« ankommt. Der aktive Kampf für Reformen von unten hat das Potenzial, den Klassenkampf zu stärken. Reformen von oben, wie es bei einer Linksregierung der Fall wäre, fördern Passivität und schwächen den Kampf. Insofern ist die Alternative zur Strategie von Brand und Wissen ein radikaler Bruch von unten. Dies ist außerdem die einzige Strategie, die, wie John Molyneux in seinem Artikel »Is there time for system change?« festhält, der Dringlichkeit der Lösung einer Klimakrise, die sich schnell und unvorhersehbar entwickelt, gerecht wird.


Über die Autor:innen: Sascha Radl promoviert an der Universität Edinburgh, Nora Schmid schreibt ihre Masterarbeit zur Klimakrise im Sudan an der Universität Kassel. Beide sind Mitglieder der LINKEN.

Zum Artikel: Der Artikel wurde zuerst auf Englisch in der Zeitschrift International Socialism veröffentlicht. Abdruck in gekürzter und leicht überarbeiteter Version.

Titelbild: Derek Thomson / Unsplash