Marsch für die Unabhängigkeit Neukaledoniens am 11. Mai

Neukaledonien: Aufstand gegen die französische Herrschaft

Die Menschen in Neukaledonien im Pazifik sind in Aufruhr gegen den französischen Kolonialstaat. Von Charlie Kimber

Bei den mehrtägigen Unruhen fackelten antifranzösische Demonstranten Fahrzeuge und Geschäfte ab und plünderten Läden. Es handelt sich um den größten Aufstand in dem Gebiet seit mehr als 30 Jahren.

Der französische Hochkommissar Louis Le Franc bezeichnete die Unruhen als „aufrührerisch“. Er sagte, etwa 3.000 bis 4.000 Randalierer seien immer noch auf den Straßen der Hauptstadt Nouméa und weitere 5.000 im Großraum Nouméa „in Aktion“.

Frankreich hat den Ausnahmezustand ausgerufen und Hunderte von zusätzlichen Polizisten entsandt. Premierminister Gabriel Attal sagte, die Behörden würden „die härtesten Strafen für Randalierer und Plünderer“ durchsetzen. Er fügte hinzu, dass der 12-tägige Ausnahmezustand „es uns ermöglichen wird, massive Mittel zur Wiederherstellung der Ordnung einzusetzen“.

Pro-französische Milizen, die vom Staat sanktioniert sind, führen ihre eigenen Repressionen durch.

Die Unruhen brachen aus, nachdem die Gesetzgeber in Paris beschlossen hatten, die Wählerverzeichnisse zu ändern, um mehr Franzosen das Wahlrecht zu ermöglichen. Anführer der Ureinwohner erklärten, dass dieser Schritt den politischen Einfluss der Ureinwohner – die etwa 41 Prozent der Bevölkerung ausmachen – verwässern und ein Unabhängigkeitsvotum verhindern wird.

Mitte April nahmen rund 55.000 Unabhängigkeitsbefürworter und 35.000 Befürworter Frankreichs an konkurrierenden Protesten in Nouméa teil. Diese Zahlen sind außergewöhnlich in einem Land mit 275.000 Einwohnern. Eine Abstimmung über die Loslösung von Frankreich im Jahr 2020 scheiterte an weniger als 5.000 Stimmen.

Bizarrerweise hat Frankreich Aserbaidschan – viele Tausend Kilometer entfernt – für den Aufstand verantwortlich gemacht. Im Juli 2023 lud Aserbaidschan Unabhängigkeitsbefürworter aus den französischen Gebieten Martinique, Französisch-Guayana, Neukaledonien und Französisch-Polynesien zu einer Konferenz mit dem Titel „Auf dem Weg zur vollständigen Abschaffung des Kolonialismus“ ein.

In einem Interview mit der Website „Revolution Permanente“ erklärt der Journalist und Aktivist Benoît Godin: „Alle politischen Parteien, die gegen die Unabhängigkeit sind, haben dazu aufgerufen, bei der Wiederwahl von Emmanuel Macron im Jahr 2022 für ihn zu stimmen. Die „Loyalisten“ und der französische Staat gehen Hand in Hand.

Ihr Ziel ist es, die französische Präsenz in Neukaledonien so lange wie möglich aufrechtzuerhalten. Die heutige Ausweitung der Wählerschaft ist ein entscheidender Schritt. Dies ist ein Angriff auf eine wesentliche Errungenschaft des Kampfes des kanakischen Volkes und der Unabhängigkeitsaktivisten.

„Es muss klar sein, dass die Kanaken niemals aufgeben werden. Jedes Mal, wenn sie ihre Freiheit verteidigen und für die Unabhängigkeit ihres Landes kämpfen mussten, haben sie geantwortet. Als es notwendig war, für die Unabhängigkeit zu stimmen, sind sie massenhaft zu den Urnen gegangen. Und wenn es keine andere Möglichkeit gibt, gehen sie auf die Straße. Aber selbst dann wurden sie nicht gehört, und jetzt geht alles den Bach runter.“

Neukaledonien verfügt über beträchtliche Nickelvorkommen und produziert etwa 6 Prozent der weltweiten Nickelproduktion. Terminkontrakte für Nickel, ein wichtiges Element in Batterien für Elektrofahrzeuge und in der Stahlherstellung, stiegen am Freitag an der Londoner Metallbörse um fast 7 Prozent. Westliche Konzerne und China wollen sich mit dem Metall versorgen.

Der französische Imperialismus ist der Ansicht, dass Neukaledonien, das zwischen Australien und den Fidschi-Inseln liegt, wichtiger denn je ist, da der Pazifik zwischen den westlichen Staaten und China umkämpft ist.

Letztes Jahr hat sich die australische Regierung, die durch das AUKUS-Militärabkommen mit Großbritannien und den USA verbunden ist, gemeinsam mit Frankreich bei mehreren UN-Entkolonialisierungsresolutionen der Stimme enthalten.

Jeder Antiimperialist sollte die Revolte gegen Frankreich und seine Verbündeten unterstützen.

Eine Geschichte von Unterdrückung und Widerstand

Bis nach Neukaledonien sind es von Paris aus 17.000 Kilometer (11.000 Meilen). Der französische Imperialismus eroberte das Gebiet 1853 und beherrschte es durch mörderische Unterdrückung und der Ansiedlung von Siedlern, die der einheimischen Kanak-Bevölkerung das Land wegnahmen.

Ende 1960 erhob sich eine große Jugendbewegung gegen den Rassismus und die Armut der Kanaks. Der französische Staat reagierte darauf mit einer massiven Einwanderung von Franzosen und Europäern auf die Inseln.

1972 hieß es in einem Rundschreiben von Premierminister Pierre Messmer: „Die französische Präsenz in Kaledonien kann, sofern kein Weltkrieg ausbricht, nur durch eine nationalistische Forderung der einheimischen Bevölkerung in Gefahr geraten. Eine massive Einwanderung französischer Staatsbürger sollte es ermöglichen, diese Gefahr zu vermeiden, indem das zahlenmäßige Verhältnis der Gemeinschaften beibehalten oder verbessert wird.“

Zwei Tage vor den französischen Präsidentschaftswahlen 1988 überfielen militante Kanak einen schwer bewaffneten Polizeiposten auf Ouvéa auf den Loyalitätsinseln, einer der Provinzen Neukaledoniens. Sie töteten vier Gendarmen und nahmen 27 als Geiseln.

Die Freiheitskämpfer forderten ein echtes Referendum über die Unabhängigkeit unter Aufsicht der Vereinten Nationen. Der Führer der Kanak-Nationalisten, Jean-Marie Tjibaou, sagte, er sei bestürzt über die Angriffe, sehe aber deren Wurzeln im französischen Imperialismus. „Seit sie unser Land gestohlen haben, haben sie versucht, jeden zu eliminieren, der ihre bösen Taten anprangert. Das ist schon seit Beginn des Kolonialismus so.“

Die Militanten ließen einige Geiseln frei, aber der französische Staat verschärfte seine hasserfüllte Rhetorik. Der Minister für territoriale Angelegenheiten, Bernard Pons, sagte, der Guerillaführer Alphonse Dianou sei ein „in Libyen ausgebildeter religiöser Fanatiker“.  Tatsächlich wurde er in einem römisch-katholischen Seminar auf den Fidschi-Inseln ausgebildet.

Am 5. Mai, kurz vor der zweiten Runde der Präsidentschaftswahlen, griffen die französischen Streitkräfte die Ouvéa-Höhle an, in der die Geiseln festgehalten wurden, und töteten 19 Kanaken.

Es war ein Massaker, das dazu diente, Stärke zu zeigen und faschistische Stimmen zu gewinnen. Philippe Legorjus, einer der Anführer der beteiligten französischen Streitkräfte, sagte, Präsident Francois Mitterrand habe absichtlich einen Vermittler für eine friedliche Lösung ausgeschlossen.

Ein Kanak-Nationalist sagte, die französischen Führer hätten sich „wie Mörder verhalten. Ich beschuldige sie des Mordes. Sie hätten das Gemetzel vermeiden können. Sie zogen es vor, die Stimmen von Le Pens Freunden mit dem Blut der Kanak zu kaufen“.


Dieser Beitrag ist im Mai 2024 bei socialistworker.co.uk erschienen

Übersetzt von René Paulokat