Die Oktoberrevolution wird oft verteufelt: Putsch einer Minderheit und erster Schritt auf dem Weg in die Diktatur, so die häufigsten Vorwürfe. Tatsächlich handelte es sich um einen demokratischen Akt. Von Carl Schreiber
In der Nacht zum 26. Oktober 1917 (8. November nach dem gregorianischen Kalender) übernahm der neu gewählte Allrussische Kongress der Arbeiter-, Bauern- und Soldatenräte die Regierungsgewalt in Russland. Zum ersten Mal in der Geschichte herrschten nun die Werktätigen selbst in einem Land.
Die neue Regierung der Bolschewiki begann sofort, die Forderungen der Revolution umzusetzen: Sie verstaatlichte den Großgrundbesitz von Adel und Kirche und übertrug die Verteilung des Landes den lokalen Sowjets. Sie begann sofort mit Friedensverhandlungen, die schließlich im Separatfrieden mit dem Deutschen Reich mündeten. Sie eröffnete allen Minderheiten des Landes die Möglichkeit, sich vom russischen Staat abzutrennen. Sie beseitigte die Vorrechte der russisch-orthodoxen Kirche und schuf Religionsfreiheit. Das bedingungslose Recht auf Scheidung und Abtreibung wurde eingeführt, das Verbot von Homosexualität aufgehoben. Alle diskriminierenden Regelungen gegen Juden wurden beseitigt. Für eine kurze Zeit wurde Russland zur fortschrittlichsten Gesellschaft der Welt.
Propaganda gegen die Oktoberrevolution
Die Herrschenden aller Länder begegneten dieser neuen Regierung in Russland von Anfang an mit Hass. Die Propagandakampagne gegen die Revolution hält bis heute an. Zentraler Vorwurf ist, dass die Oktoberrevolution in Wirklichkeit ein Putsch gewesen sei. So schreibt beispielsweise der »Spiegel«, sie sei »kaum wahrgenommen vom Gros der Einwohner Petrograds, durchgezogen von kaum mehr als ein paar tausend Aufständischen (mehr brauchte es nicht, um die rückhaltlose Regierung zu stürzen).«
Es ist richtig, dass am 25. Oktober keine Massenproteste auf der Straße und keine Massenstreiks stattfanden. Beides hatte es bereits im Mai und Juni gegeben, jeweils mit der Forderung an die Sowjets, die Macht zu übernehmen. Aber diese, zu jenem Zeitpunkt von rechten Menschewiki und Sozialrevolutionären dominiert, weigerten sich und unterstützten stattdessen eine bürgerliche Regierung. Die Proteste liefen ins Leere, weil die Mehrheit der Bevölkerung außerhalb der Hauptstadt Petrograd noch den Versprechen der rechten Flügel der sozialistischen Parteien glaubten. Diese Illusionen lösten sich bis zum Oktober auf.
In der Nacht zum 25. Oktober besetzten dann Militäreinheiten unter dem Kommando des militärischen Revolutionskomitees Telegrafenämter, Bahnhöfe, Ministerien und andere wichtige Punkte der russischen Hauptstadt Petrograd. Sie stießen praktisch auf keine Gegenwehr.
Keine Unterstützung für die Regierung
Alle Kritiker der Oktoberrevolution gestehen zu, dass die Regierung in der Bevölkerung und der Armee keine Unterstützung mehr hatte. Die Mehrheit der Bäuerinnen und Bauern, die wiederum rund 80 Prozent der Bevölkerung ausmachten, hatte sich von den Land- und Dorfkomitees aufwärts bis in die Bauernsektion des Allrussischen Sowjetkongress für eine Aufteilung des Großgrundbesitzes ausgesprochen. Dies war eine Überlebensfrage für viele arme Kleinbauern. Die Regierung weigerte sich nicht nur, irgendwelche Schritte in diese Richtung zu unternehmen, sondern unterstützte die Großgrundbesitzer im Kampf gegen die Bauern.
Die Armee hatte seit Frühjahr 1915 nur noch Niederlagen und Rückzüge erlebt. Jede Offensive endete im Desaster. Die Soldaten wollten nicht mehr kämpfen, zumal ihnen immer deutlicher wurde, dass sie ihr Leben für die Interessen der Kapitalisten opferten. Die Regierung hingegen versuchte mit allen Mitteln, den Krieg bis zum Sieg fortzusetzen.
Nahrungsmittelspekulation füllte die Taschen einiger Kapitalisten, verschärfte aber den Hunger in den Arbeitervierteln. Gleichzeitig sabotierten einige Fabrikbesitzer absichtlich die Produktion, um Entlassungen und Aussperrungen rechtfertigen zu können. Das Kapital war entschlossen, so die Revolution zu schwächen, schließlich die Regierung zu stürzen und durch eine Militärdiktatur zu ersetzen. Ende August scheiterte ein entsprechender Versuch des Oberkommandierenden des Heeres, General Lawr Kornilow, am Widerstand auf der Straße.
Massenproteste und Streiks waren nicht notwendig
Die Regierung weigerte sich, gegen das Kapital vorzugehen. Sie hoffte, den Druck von oben als Mittel gegen die Arbeiterinnen und Arbeiter, Soldaten und Bäuerinnen und Bauern nutzen zu können. Sie löste keines der brennenden Probleme der Bevölkerung, verzögerte alle revolutionären Maßnahmen, bekämpfte jegliche Initiative von unten. Mitte Oktober war die Beliebtheit des Ministerpräsidenten Alexander Kerenski und aller, die ihn in den Sowjets unterstützten, auf dem Nullpunkt angelangt. Die Frage, die sich den Menschen stellte, war: Wie und wann dieses Regime ersetzen, so dass der Konterrevolution vom Typ Kornilow keine Chance eines Gegenschlages gegeben würde.
Das militärische Revolutionskomitee von Petrograd berief für den 18. Oktober eine Garnisonsberatung ein, zu der alle in der Stadt und ihrer Umgebung stationierten Regimenter Vertreter entsenden sollten. Eine namentliche Abstimmung ergab eine überwältigende Mehrheit für den Aufstand. Dies waren nicht die Instrumente eines Putsches, bei dem eine Verschwörung von Offizieren insgeheim einen Aufstand plant, sondern hier fand eine offene und öffentliche Debatte demokratischer Organe der Masse der Soldaten statt.
Die Soldaten selbst waren in ständigem Austausch mit den Arbeiterinnen und Arbeitern, über wechselseitige Delegationen, die Bezirkssowjets und gemeinsame Versammlungen. In den Fabriken waren die Mehrheitsverhältnisse bereits seit Monaten klar. Eine Neuwahl der Delegierten zum Petrograder Sowjet hatte schon im September eine deutliche bolschewistische Mehrheit ergeben. Es gab schlicht keine Notwendigkeit, den Aufstand im Oktober durch Massendemonstrationen und Streiks zu begleiten. Die Masse der Arbeiter und Soldaten war sich ihrer Stärke bewusst, Gegenkräfte waren marginal, und so reichte eine begrenzte militärische Operation, unterstützt von der großen Mehrheit, die Regierung abzusetzen.
Sowjets oder »Konstituierende Versammlung«?
Die Macht lag danach, wie es die Bolschewiki seit dem April gefordert hatten, in der Hand des am Abend des 25. Oktober zusammengetretenen 2. Allrussischen Kongresses der Arbeiter-, Bauern- und Soldatensowjets. Dieser repräsentierte rund 90 Prozent der Bevölkerung und wählte eine neue Regierung, in der die Bolschewiki die Mehrheit stellten, an der aber auch linke Sozialrevolutionäre beteiligt waren.
Kritiker, die in der Oktoberrevolution einen Putsch sehen, verweisen auf die »Konstituierende Versammlung«, die im Januar 1918 eröffnet und nach nur 13 Stunden bereits wieder aufgelöst wurde. Erstens zeige das Wahlergebnis, dass die Bolschewiki in der Minderheit im Lande gewesen waren, und zweitens beweise die Auflösung der Versammlung den undemokratischen Charakter der Bolschewiki.
Die Bolschewiki erhielten rund ein Viertel der Stimmen, dabei die klare Mehrheit in den Städten und der Armee. Über die Hälfte der Stimmen erhielten die Sozialrevolutionäre, dabei die überwältigende Mehrheit auf dem Land. Diese Partei hat sich aber gespalten. Die linke Spaltung ging im Sowjet eine Koalitionsregierung mit den Bolschewiki ein und unterstützte die Sowjetdemokratie. Da die Spaltung erst nach Aufstellung der Wahllisten erfolgte und die links-rechts-Spaltung auch eine oben-unten-Spaltung in der Partei war, gehörten die meisten Abgeordneten in der Konstituierenden Versammlung dem rechten Flügel an, während die meisten Wähler den linken Flügel unterstützten. Die Zusammensetzung der Versammlung repräsentierte rein formaldemokratisch weniger die tatsächlichen Mehrheitsverhältnisse als die Sowjets. Außerdem sahen viele Wahlberechtigte keinen Sinn mehr in dieser Versammlung, da die Sowjets nun in ihren Augen die Aufgaben erledigten. Von 160 Millionen Einwohnern beteiligten sich nur knapp 42 Millionen an der Wahl zur Konstituierenden Versammlung, mit einem deutlichen Übergewicht bei den privilegierten Klassen.
Oktoberrevolution: Rätemacht oder Militärdiktatur
Vor allem aber war die Einberufung der Konstituierende Versammlung der nächste Versuch, die Umsetzung der Forderungen der Revolution zu verzögern. Schon in den acht Monaten von März bis Oktober diente sie als Begründung für die Verschiebung jeder Entscheidung in Bezug auf Landverteilung oder Staatsreform, denn der Konstituierenden Versammlung sollte nicht vorgegriffen werden. Die Provisorische Regierung zögerte den Termin der Wahl ständig hinaus, letztlich sollte sie erst nach Ende des Kriegs stattfinden, an dem sich die Bürgerlichen um jeden Preis bis zum Sieg beteiligen wollten. Erst der 2. Allrussische Arbeiter- und Soldatenrat, also nach der Oktoberrevolution, setzte einen Wahltermin an, der auch eingehalten wurde.
Als sich herausstellte, dass die Zusammensetzung der Versammlung aufgrund der Kandidatenauswahl bei der Partei der Sozialrevolutionäre deutlich rechts von den im engen Kontakt mit den Massen stehenden lokalen und Bezirkssowjets stand, entschied die Koalitionsregierung aus Bolschewiki und linken Sozialrevolutionären, die Versammlung aufzulösen. Sie wollten verhindern, dass diese zu einem Sammelpunkt für die Kräfte der Konterrevolution werden würde.
Viele heutige Kommentatoren sehen darin einen schweren Fehler, oder gar den Beweis für den undemokratischen Charakter der Bolschewiki. Sie stellen es so dar, als habe es die Alternative gegeben zwischen Sowjetdiktatur oder bürgerlich-parlamentarischer Demokratie. Doch diese Alternative gab es damals nicht. Stattdessen lag die Entscheidung zwischen der Herrschaft der Räte oder einer Militärdiktatur. Überall dort, wo die Rechtssozialisten im folgenden Jahr im Bündnis mit den Parteien der Kapitalisten die Kontrolle erlangten, wurden sie schließlich von den Kräften der Konterrevolution verjagt oder ermordet. Dass die Russische Revolution schließlich scheiterte, lag nicht der Machtübernahme.
Titelbild: cdn.fusoelektronique.org