Am 12. April wurde der Palästina-Kongress in Berlin verboten. Wir sprachen mit Shirin Jamila und Ramsis Kilani, die vor Ort teilnahmen.
Am Freitag, den 12. April hätte in Berlin der Palästina-Kongress starten sollen. Die Polizei hat ihn verboten. Was ist passiert?
900 Einsatzkräfte aus ganz Deutschland waren allein am Freitag gegen den Palästina-Kongress in Stellung gebracht worden. Einsatzkräfte drangen in das Gebäude ein, bauten sich am Rednerpult zwischen Rednern und Publikum auf, während ein anderer Teil von außen die Notausgänge umstellte. Die Polizei brach eine Tür auf und schaltete den Strom ab, um die Video-Übertragung zu stoppen. Sie beschlagnahmten mehrere Saalmikrofone und provozierten die Teilnehmenden im Saal. Sie lösten die Versammlung auf und kündigten ein Verbot des Palästina-Kongresses für das gesamte Wochenende an. Bereits im Vorfeld hatte die Polizei den Einlass der Teilnehmenden verzögert. Sie beschränkte die Teilnehmendenzahl auf unter die Hälfte der mit Tickets wartenden Menschen vor der Tür. Manche von ihnen waren extra aus dem Ausland, etwa aus Spanien, den Niederlanden, Österreich und der Schweiz, angereist.
Polizei löst Palästina-Kongress auf
Was war die Begründung der Polizei?
Zu Anfang benutzte die Einsatzleitung Fragen des Baurechts, des Gewerbeamtes und des Brandschutzes für Beschränkungen und Verzögerungen. Ein Großteil der Besucher:innen musste draußen bleiben. Sie stimmten im Rahmen einer spontan angemeldeten Versammlung pro-palästinensische Sprechchöre an. Gleichzeitig ließ die Polizei auf Grundlage der Erklärung des Innenraums zur öffentlichen Versammlung etwa 40 Journalist:innen von Springer und anderen bürgerlichen Medien ohne Akkreditierung der Organisator:innen auf den Kongress. Die Polizei zog diese sowie die Einsatzkräfte selbst von der polizeilich genehmigten Teilnehmendenanzahl im Raum ab. Die Polizei erklärte den Palästina-Kongress zu einer öffentlichen Versammlung im Innenraum. Versammlungsauflagen mussten verlesen werden. Im Kongresssaal selbst erklärte sie die Übertragung eines Videos von Salman Abu Sitta als Grund für die Auflösung der Versammlung und das Verbot des Kongresses.
Wer ist Salman Abu Sitta?
Salman Abu Sitta ist ein palästinensischer Forscher, der im gesetzgebenden Rat der PLO saß. Seit Jahren arbeitet er parteiunabhängig. Er verfasste als Historiker über 400 Forschungspapiere zur Flüchtlingsfrage und der palästinensischen Nakba. Der israelische Friedensaktivist Uri Avnery bezeichnete den international renommierten Wissenschaftler als den „weltweit wohl führendste Nakba-Experten“. Mit einem aus dem Zusammenhang gerissenen Zitat wird der respektierte Forscher in deutschen Medien diffamiert und ein politisches Betätigungsverbot gegen ihn in Deutschland gerechtfertigt. Salman Abu Sitta beschreibt in diesem Zitat die Lebensumstände, die junge Menschen im Gazastreifen, in dem auch er als Flüchtlingskind aufwuchs, zu militärischen Aktionen wie am 7. Oktober treiben. Die Bundesregierung wirft ihm eine Hamas-Nähe vor. Aber darum geht es nicht.
Repression soll Palästinasolidarität isoliert halten
Worum geht es dann?
In Wirklichkeit geht es beim politischen Betätigungs- und Einreiseverbot gegen Salman Abu Sitta und den ehemaligen griechischen Finanzminister Yanis Varoufakis sowie der staatlichen Repression gegen den Palästina-Kongress darum, jede Information an die deutsche Bevölkerung über die Lage in Palästina zu unterbinden. Gerade deshalb wurde auch Dr. Ghassan Abu Sitta die Einreise am Berliner Flughafen verweigert.
Wer ist Dr. Ghassan Abu Sitta?
Dr. Ghassan Abu Sitta ist ein mehrfach preisgekrönter Chirurg. Er ist Rektor an der Universität in Glasgow und lehrt dort. Auf dem Palästina-Kongress sollte der Experte über seine Erfahrungen mit der medizinischen Lage im Gazastreifen berichten, die er während seiner 43 Tage in Gaza-Stadt erlebte. Die Abschiebung von Dr. Ghassan Abu Sitta durch Deutschland ist nicht nur ein unverhüllter Akt staatlicher Repression gegen die Wissenschaftsfreiheit, sondern die Intervention zeigt, wie langfristig der Staat die Unterbindung der Inhalte des Kongresses geplant hat.
Medienhetze gegen Palästina-Kongress
Was geschah vor dem Kongresswochenende?
Über den angekündigten Palästina-Kongress brach bereits vorab eine mediale Hetzkampagne sondergleichen herein. „Antisemiten planen Hass-Gipfel in Berlin”, titelte etwa die B.Z. Der Berliner Senat prüfte sofort mögliche Wege, den Kongress einzuschränken oder zu verbieten. Die Bild-Zeitung griff dann wiederum den Senat dafür an, es nicht getan zu haben. Die Berliner Sparkasse sperrte das Konto des mitorganisierenden Vereins Jüdische Stimme für gerechten Frieden in Nahost e.V., um die Finanzflüsse für den Kongress zu unterbinden.
Berliner Veranstaltungsorte wurden befragt, ob sie es seien, die dem Palästina-Kongress ihre Räumlichkeiten zur Verfügung stellen würden. Die Polizei führte Hausdurchsuchungen bei Mitorganisierenden durch. Die Innensenatorin kündigte an, mit aller Härte gegen den Kongress vorgehen zu wollen. Den vorwiegend von linken Gruppen organisierten Kongress rückte sie absurderweise in die Nähe der „islamistischen Szene“. Am für den Kongress geplanten Wochenende wurden 2.500 polizeiliche Einsatzkräfte aus ganz Deutschland mobilisiert. Das Ziel war klar: Der Palästina-Kongress sollte nicht stattfinden.
Wie schätzt ihr die Unterbindung des Palästina-Kongresses ein?
Repression gegen demokratische Grundrechte der Meinungs- und Versammlungsfreiheit unter Berufung auf die „wehrhafte Demokratie”, für die Grundrechte ausgehebelt werden müssten, ist im Kontext der Palästinasolidarität in Deutschland, besonders in Berlin, nichts Neues. Wenige Stunden vor Kongressbeginn versuchte die CDU im Bundestag, gegen die Rechtsempfehlung neue repressive Gesetze zur Zerschlagung der Palästina-Bewegung auf der Straße, in Schulen und Universitäten in Deutschland zu erlassen.
Dieses Wochenende des Verbotes politischer Betätigung, Einreise und des Kongresses insgesamt stellt jedoch selbst unter diesen Umständen eine neue Stufe staatlicher Repression dar. Eine Veranstaltung im Innenraum wurde von der Bereitschaftspolizei gestürmt und ohne haltbare Begründung aufgelöst. Argumentiert wurde lediglich auf der Grundlage von Salman Abu Sittas Botschaft aus dem Ausland, dass es möglicherweise irgendwann zu verbotenen Aussagen kommen könnte und deshalb das gesamte Kongresswochenende verboten werden müsse.
Politisch gewollte Repression
Die Einsatzkräfte handelten offenbar im Auftrag höherer politischer Instanzen, um den Kongress mit allen notwendigen Mitteln zu unterbinden. Das Vorgehen der Behörden ist mit der Versammlungs- und Meinungsfreiheit unvereinbar. Selbst wenn man dem Palästina-Kongress kritisch gegenüber steht, hätte es Möglichkeiten gegeben, strafbare und als antisemitisch interpretierte Reden zu verhindern und Auflagen durchzusetzen, ohne den Kongress komplett zu verbieten.
Wie kommt ihr auf diesen “Auftrag höherer politischer Instanzen”?
Einer der vor Ort anwesenden Anwälte berichtete, dass die Einsatzkräfte infolge von Telefongesprächen und Besprechungen zur Tat schritten und den Kongress auflösten, obwohl die Veranstaltenden zuvor einwilligten, ohne den Stream fortzufahren. Nachdem es kurzzeitig so wirkte, als wäre das ein Plan, auf den man sich vor Ort einigen könnte, entschied der Gesamteinsatzleiter jedoch, dass der Kongress verboten wird. Außerdem waren entsprechende Ankündigungen von der Berliner Innensenatorin schon im Vorfeld veröffentlicht worden.
Wie können Palästina-Aktivist:innen überhaupt gegen dieses Maß an Staatsgewalt vorgehen?
Ein Versuch, damit umzugehen, war die Geheimhaltung der Kongress-Räumlichkeit und gefährdeter einreisender Sprecher:innen vor der Öffentlichkeit. Beides blieb nicht lange geheim. Eine pro-israelische Gruppe veröffentlichte eine Adresse und geplante Redner:innen, über die sie aus einem Mitschnitt von einem Kongress-Planungstreffen erfahren habe. Die zweite Räumlichkeit wurde deshalb von einem kleinen Kern von Organisator:innen geheimgehalten. In einem Interview mit der taz gab der Rechtsanwalt Michael Plöse bekannt, dass die Polizei Vermieter:innen von Sälen befragt habe. Die Veranstaltenden hätten ihr daraufhin vor dem Kongress die Räumlichkeit mitgeteilt und sie zu einer gemeinsamen Begehung eingeladen. Ab diesem Punkt kannten also nur die Staatsgewalt und die Kongress-Veranstaltenden den Veranstaltungsort. Öffentlich wurde die Adresse zuvor nicht bekannt. Diejenigen, die Kongress-Tickets gekauft hatten, erfuhren eineinhalb Stunden vor Einlass, wo dieser stattfinden werde.
Massenhafte Aktivität gegen Repression
Die staatliche Repression gegen Grundrechte trägt die volle Verantwortung für eine solche Reaktion des verdeckten Vorgehens. Am Ende hielten sich die Einsatzkräfte natürlich nicht an Zusagen und verhinderten den Kongress allen Vorgesprächen zum Trotz mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln.
Was den Palästina-Aktivismus in Deutschland aus solchen Dilemma-Situation herausbringen kann, ist ein Ausgreifen der Solidarität. Massenaktivität und breiter Rückhalt sind eine Sicherheitsalternative zu klandestinem Agieren weniger Eingeweihter.
Bestehen in Deutschland denn überhaupt Möglichkeiten für breiten Rückhalt für Palästinasolidarität in der Bevölkerung?
Es bestehen Anknüpfungspunkte. Eine deutliche Mehrheit der Deutschen hält Israels militärisches Vorgehen im Gazastreifen für nicht gerechtfertigt. 87 Prozent der Befragten fordern vom Westen mehr Druck auf Israel zur Versorgung der Bevölkerung im Gazastreifen. Einer der Hintergründe der gestiegenen Repression ist die Sorge der Herrschenden, dass diese Mehrheitsbevölkerung vom Palästina-Aktivismus erreicht werden könnte und darüber hinaus Zugang zu weiteren Informationen erhält. Die Menschenrechtsorganisation ECCHR hat Klage gegen deutsche Waffenlieferungen an Israel erhoben. Der deutsche Ableger der größten Menschenrechtsorganisation Amnesty International unterstützt diese Klage. Die Forderung nach der Beendigung deutscher Waffenlieferungen an Israel ist mehrheitsfähig. Auch die Forderung nach einem Ende der Hunger-Blockade gegen Gaza kann Mehrheiten erreichen.
Rückhalt für Palästinasolidarität
Wenn die Palästina-Bewegung Formen findet, solche breit getragenen Forderungen voranzustellen, ohne dass ihre konsequent antizionistischen Teile in Kampagnen inhaltliche Konzessionen machen, kann die Palästinasolidarität wachsen und staatliche Repression erschweren. Es gibt uns revolutionären Kräften die Chance, ein Massenpublikum mit unseren Positionen zu erreichen. Wir können Menschen, die schockiert vom Grauen in Gaza sind, die Geschichte Palästinas und Perspektiven der Befreiung durch Aufstände in der gesamten Region aufzeigen. Gleichzeitig können wir dem Kampf der Palästinenser:innen konkret helfen, indem wir die militärische Unterstützung Israels durch den deutschen Imperialismus massenhaft unter Druck setzen.
Wie ist die Stimmung in der Palästina-Bewegung in Deutschland aktuell?
Die internationale Solidarität gehört zu den wesentlichen Bestandteilen der Bewegung für die Freiheit Palästinas und gibt in Deutschland Aktiven Kraft. Dass weltweit vor deutschen Botschaften gegen das Verbot des Palästina-Kongresses protestiert wurde, hat wichtigen Einfluss. Gleichzeitig hat der deutsche Staat einen Präzedenzfall geschaffen und neue Standards gesetzt. Gleich am letzten Tag des Kongress-Wochenendes schlug die Polizei beflügelt das seit Wochen bestehende Protestcamp vor dem Bundestag nieder. Viele Aktivist:innen äußern nach diesem Wochenende der Gewalt ein Gefühl von Ohnmacht und Orientierungslosigkeit.
Es gibt in manchen deutschen Tageszeitungen liberale Kritik an der Grundrechtseinschränkung im Zuge des staatlichen Kongressverbotes. Auch das Netzwerken konnte durch alternative Livestream-Orte, die Demonstration mit etwa 2.000 Teilnehmenden am Samstag und das Protest-Camp nicht vollständig unterbunden werden. Da auf den Palästina-Kongress aufgrund der Medienhetze, Repression und dessen Ausrichtung ohnehin wenige außerhalb des fest überzeugten aktiven Kerns der Solidaritätsbewegung kamen, hätte diese Koordinierung und Vernetzung das Herzstück des Kongresses sein können. Diese Möglichkeit ist abgeschwächt worden. Der revolutionäre Sozialist Tony Cliff prägte die Parole: „Belüge die Klasse niemals!” Wir sollten ehrlich in unserer Einschätzung über Erfolge und Rückschläge sein und gleichzeitig nach vorne schauen und Strategien zum Ausgreifen der Palästinasolidarität in der Bewegung in Deutschland diskutieren.
Vielen Dank euch.