Ist rechtes Gedankengut nur in unseren Köpfen?

Rechtes Gedankengut zieht sich durch die ganze Gesellschaft, selbst bei denen, die davon nicht profitieren. Simon Basketter aus Großbritannien fragt, woher sie kommen – und wie wir sie ändern können

Warum haben Menschen rechtsextreme Ideen? Dass es gerade an der Spitze der Gesellschaft Rassist:innen und Frauenfeinde gibt, erscheint nachvollziehbar. Sie profitieren von einem System, das auf Diebstahl und Unterdrückung basiert. Selbst wenn sie es nicht als nützliches Werkzeug zur Spaltung und Herrschaft sehen, ist es für sie logisch, die Werte der Gesellschaft aufrechtzuerhalten, die sie überwachen. Doch wir alle kennen Menschen, die keinen materiellen Grund haben, das gegenwärtige System zu unterstützen, aber Aspekte davon verteidigen – oder sogar seine schlimmsten Ideen äußern. Ein einfaches Beispiel dafür ist, dass seitdem die Arbeiter:innenklasse das Wahlrecht erlangt hat, etwa 20 Prozent für die Tory-Partei gestimmt haben. Warum wählen sie eine Partei, die ihre Interessen so deutlich und konsequent angreift? In kleinerem Maßstab haben wir in den letzten Monaten erlebt, wie Menschen gegen die Ankunft von Migrant:innen protestieren. Diese Mobilisierungen bieten eine Vielzahl rassistischer Ideen, um ihre Handlungen zu rechtfertigen. Warum sind diese Ideen in der Arbeiter:innenklasse verbreitet?

Die herrschenden Ideen sind die Ideen der herrschenden Klasse

Für die Revolutionäre Karl Marx und Friedrich Engels sind die herrschenden Ideen in jeder Gesellschaft »die Ideen der herrschenden Klasse«. Das bedeutet jedoch nicht, dass dies die einzigen Ideen sind. Es bedeutet aber, dass die Menschen an der Spitze den Prozess nicht dem Zufall überlassen. Sie hoffen nicht einfach darauf, dass »das System« rückständige Ideen hervorbringt. Dies wird in dem Rodgers- und Hammerstein-Musical South Pacific zum Ausdruck gebracht. Der Text lautet: »Man muss dich lehren, zu hassen und zu fürchten, man muss dich lehren, von Jahr zu Jahr, man muss es dir in dein liebes kleines Ohr trommeln. Man muss dir beibringen, bevor es zu spät ist, bevor du sechs oder sieben oder acht Jahre alt bist, all die Menschen zu hassen, die deine Verwandten hassen.« Etwas prosaischer ausgedrückt sagte Antonio Gramsci im frühen 20. Jahrhundert, dass Institutionen wie Schulen, Medien und Familie als »Übertragungsriemen« für herrschende Ideen wirken. Gramsci sagte, dass dies der herrschenden Klasse hilft, »Hegemonie« zu erlangen.

Die Meinungen der Menschen werden durch ihre Erfahrungen geprägt. Die Welt des Wettbewerbs, die von den Reichen und den kapitalistischen Medien gefördert wird, erscheint den meisten Menschen durchaus vernünftig. Deshalb denken sogar die meisten Menschen, die einige sozialistische Ideen akzeptieren, dass Veränderungen innerhalb des Rahmens des aktuellen Systems vorgenommen werden müssen. Dies kann manchmal auf einer Vorstellung beruhen, dass die Menschen manipuliert wurden. Auf der rechten Seite der Arbeiter:innenbewegung sagen die Leute, wir müssten uns dafür aussprechen, rechte Argumente über Migration zu akzeptieren, weil die Menschen eben so denken. Eine ähnliche, aber umgekehrte Ansicht unter Teilen der Linken betrachtet die Menschen auch als durch Propaganda von oben manipuliert. Sie sagen, wir müssten die Menschen entweder bevormundend erziehen oder uns völlig von ihnen abwenden und anderswo nach Veränderung suchen.

Aber die Menschen sind keine Schwämme und auch keine Esel, die nach Löwen suchen, die sie führen. Der Kapitalismus kann uns machtlos erscheinen lassen. Wir haben keine wirkliche Kontrolle darüber, wie die Gesellschaft geführt wird. Die meisten wichtigen Entscheidungen werden von der herrschenden Klasse getroffen. Das ist einer der Gründe, warum einige Menschen Veränderung nur durch die Wahl netter Menschen für möglich halten, sofern wir welche finden können, die die Dinge stellvertretend für uns verändern.

Entfremdung im Bewusstsein der Arbeiter:innenklasse

Doch es ist noch grundlegender als das. Die überwiegende Mehrheit von uns verdient seinen Lebensunterhalt, indem wir für eine kleine Anzahl enorm reicher Menschen – die herrschende Klasse – arbeiten. Der Arbeitsprozess ist grundlegend für das menschliche Leben. Aber in dieser Gesellschaft wird unsere Arbeit von einer fremden Kraft – dem Kapitalisten – kontrolliert. Marx schrieb, dass in einer Welt ohne Klassenteilung »meine Arbeit eine freie Entfaltung des Lebens wäre, daher eine Genuss des Lebens«. Während in dieser Gesellschaft »meine Arbeit eine Entfremdung des Lebens ist, denn ich arbeite, um zu leben, um mir die Mittel zum Leben zu verschaffen. Meine Arbeit ist nicht mein Leben.« Das, was am Wichtigsten für unser Leben sein sollte, wird zu einer Last, die wir ertragen müssen. Durch Entfremdung verlieren die Arbeiter nicht nur die Kontrolle über den Arbeitsprozess. Die Produkte ihrer Arbeit nehmen auch noch fremde Eigenschaften an. Die Dinge, oder Waren, die wir herstellen, gehören uns nicht, sondern dem Chef. Sie erfüllen nicht mehr unsere direkten Bedürfnisse, sondern nur die Bedürfnisse von Profit und Markt. Der grundlegende Baustein der Gesellschaft im Kapitalismus ist verschleiert, versteckt und wird verleugnet.

Entfremdung beeinflusst auch die Art und Weise, wie Menschen miteinander in Beziehung treten, da die produktiven Beziehungen, in die sie eintreten, der kapitalistischen Dominanz unterliegen. Und Menschen werden von ihrer eigentlichen Natur als Menschen entfremdet. Dies kann erklären, warum Arbeiter reaktionäre Ideen wie Rassismus oder Sexismus akzeptieren können, die ihren Interessen zuwiderlaufen. Für den einzelnen Arbeiter kann dieses System – ohne alternative Erfahrungen, wie die Gesellschaft organisiert sein kann – natürlich erscheinen. Es kann uns auch isoliert oder atomisiert fühlen lassen, im Wettbewerb mit anderen Arbeitern. Lohnkürzungen für Arbeiter und Steuersenkungen für Reiche werden gerechtfertigt, wenn unsere Jobs davon abhängen, wie viel Profit unsere Chefs erwirtschaften können. Ebenso wird anti-migrantischer Rassismus gerechtfertigt, wenn es so aussieht, als ob Migrant:innen unsere Jobs oder Dienstleistungen bedrohen.

Widersprüche im Bewusstsein sind abhängig von der materiellen Position

Aber die Menschen denken nicht alle gleich. Und die meisten akzeptieren nicht alle rechten Ideen in ihrer Gesamtheit. Das liegt daran, dass unsere Ideen nicht nur davon geprägt werden, wie die Gesellschaft organisiert ist, sondern auch von unserer Position darin. Das ist der Grund, warum die Antwort auf die alte Spöttelei »Du wärst kein:e Sozialist:in, wenn du Millionär:in wärst« in der Regel wahr ist. Ein:e Arbeiter:in mag ein Gewerkschaftsmitglied sein, das niemals eine Streikpostenlinie überschreiten würde. Aber wenn er oder sie zum Manager wird, dessen Aufgabe es ist, die Arbeiter:innen im Auftrag des Chefs zu disziplinieren, wird sich seine Einstellung zu Streiks wahrscheinlich ändern. Manche hoffen, dass durch Verbesserung der Lebensbedingungen der Menschen – mit mehr Arbeitsplätzen, besseren Wohnungen, höheren Löhnen und besserem Wohnraum – reaktionäre Ideen einfach verschwinden werden. Aber wenn Aspekte der materiellen Realität des Lebens der Menschen verändert werden, während das System intakt bleibt, werden weiterhin spaltende herrschende Ideen dominieren.

Unsere Erfahrungen stehen im Widerspruch mit den herrschenden Ideen, deshalb können sich unsere Ideen im kollektiven Kampf auch gegen die Bosse wenden

Es ist dann, wenn die Kämpfe der Arbeiter:innen mit denen gegen Unterdrückung zusammenkommen, dass wir diesen Griff wirklich lockern können. Unsere Erfahrungen stehen im direkten Gegensatz zu den Ideen, die die herrschende Klasse uns akzeptieren lassen möchte. Deshalb gibt es ein Spannungsfeld. Innere Einstellungen befinden sich ständig im Wandel, gerade weil sie sich widersprechen. Wenn Menschen anfangen, die Welt zu verändern, beginnen ihre Ideen sich ebenfalls zu verändern. Im Streik befinden sich Menschen in einem kollektiven Kampf gegen die Bosse. Dann können die Ideen der herrschenden Klasse anfangen zu bröckeln. Rassistische und sexistische Ideen ergeben weniger Sinn, wenn schwarze und weiße Menschen, Männer und Frauen, gemeinsam gegen einen gemeinsamen Feind stehen.

Aber das Ergebnis kommt nicht automatisch. Weil die Menschen widersprüchliche Ideen haben können, können sie auch vehement an diesen Widersprüchen festhalten. Der Akt des Streiks an sich lässt die reaktionären Ideen nicht verschwinden. Auch der Konflikt mit dem kapitalistischen Staat führt nicht zu einer Revolution. Zum Beispiel geraten Arbeiter oft in Konflikt mit dem Staat, wenn sie protestieren oder streiken. Wenn die Polizei die Reichen und ihr System schützt, kann dies zeigen, dass die Polizei keine Verbrechen aufklärt, sondern im Auftrag der Bosse gegen Menschen vorgeht oder sogar einprügelt. Das führt nicht automatisch zu radikalen Schlussfolgerungen. Stattdessen kann es dazu führen, dass man glaubt, die Lösung sei, sich darauf zu konzentrieren, gegen die Polizei vorzugehen oder den Staat ganz zu ignorieren.

Ständiges Argumentieren für die Klassenposition bis zur erfolgreichen Revolution

Was es insgesamt geben muss, ist eine argumentative Auseinandersetzung. Die uns aufgezwungenen Spaltungen bedeuten in der Regel, dass es in der Arbeiter:innenklasse eine Minderheit von Streikbrecher:innen und eine Minderheit von Revolutionär:innen gibt. Eine Minderheit von prinzipiengeleiteten Antirassist:innen und eine Minderheit von Rassist:innen – dazwischen befinden sich andere. In jedem Kampf gibt es einen Ideenstreit. Je größer der Kampf ist, desto größer ist das Potenzial, reaktionäre Ideen zurückzudrängen. Die strukturelle Entfremdung und die Kommodifizierung der Arbeit im System öffnen die Tür für die Akzeptanz der Ideen der Bosse.

Der Widerstand dagegen am Arbeitsplatz kann auch die Grundlage für deren Niederlage bringen. Daraus schließen wir zweierlei: Erstens müssen wir ein ständiges, prinzipiengeleitetes Argumentieren gegen reaktionäre Ideen aufwenden, wo immer sie auftauchen, auch wenn wir in der Minderheit sind. Es ist nicht immer populär, sich für Migrant:innen, Trans-Personen und andere, die angegriffen werden, einzusetzen und an ihrer Seite zu stehen. Aber es ist notwendig und richtig – und legt auch die Grundlage für zukünftige Kämpfe. Zweitens müssen wir dafür kämpfen, das Niveau des Kampfes so weit anzuheben, dass wir die Ketten des Systems dort sprengen, wo sie geschmiedet werden. Wie Marx und Engels erkannten: »Die Revolution ist nicht nur deshalb notwendig, weil die herrschende Klasse auf keine andere Weise gestürzt werden kann.« Sondern auch »weil die sie stürzende Klasse nur in einer Revolution erfolgreich sein kann, um sich von all dem Unrat der Zeitalter zu befreien und sich fit zu machen, um eine neue Gesellschaft zu gründen.«


Zum Text: Der Artikel erschien zuerst am 23.7.2023 auf Englisch bei der britischen Zeitung Socialist Worker. Aus dem Englischen von Rene Paulokat.

Titelbild: Owen Vangioni