„Kriegsdienstverweigerung auch im Krieg gewährleisten“

Seit der Invasion der russischen Armee in die Ukraine fliehen Menschen vor diesem Krieg und dem Interesse der Regierenden, sich in diesem töten zu lassen. Kriegsdienstverweigerer und Deserteure sollten das Recht auf Asyl haben, meint Franz Nadler im Interview


Franz Nadler ist Vorsitzender von Connection e.V.. Der Verein in Offenbach arbeitet mit Kriegsdienstverweigernden zusammen und betreut sie durch die juristischen und menschlichen Tiefen staatlicher Repression im Entzug zum Kriegsdienst.


Svu: Es gibt in Deutschland wenig Nachrichten oder öffentliche Informationen zu Kriegsdienstverweigernden in der Ukraine und Russland. Kannst Du uns einen Überblick über eure Arbeit im letzten Jahr geben?

Franz: Unter Kriegsdienstverweigernden verstehen wir all jene, die das Menschenrecht auf Kriegsdienstverweigerung in Anspruch nehmen bzw. nehmen möchten. In Russland und der Ukraine sind es jeweils relativ wenige. In Russland sollen es pro Jahr etwa 1.000 sein, in der Ukraine maximal hundert.

Was ist die Ursache dafür?

Die Ursache für die geringe Anzahl ist in der unzulässigen gesetzlichen Begrenzung zu sehen. In Russland kann ein entsprechender Antrag nur vor der Einberufung gestellt werden, in der Ukraine können Anträge nur von zehn kleinen religiösen Gemeinschaften gestellt werden.

Mit Kriegsbeginn traten jeweils weitere Einschränkungen in Kraft. In Russland soll der Zivildienst nun als waffenloser Dienst in der Armee abgeleistet werden, in der Ukraine ist das Gesetz seit dem russischen Angriff ausgesetzt.

Ihr arbeitet als Verein seit vielen Jahren zur Frage der Kriegsdienstverweigerung in Russland und Ukraine. Wie läuft das ab?

Aktuell sind wir im Austausch, u.a. mit den Soldatenmüttern, der Bewegung für Kriegsdienstverweigerung und der Jugendorganisation Wesna sowie mit Anwält:innen. Die Organisationen empfehlen anerkannten Kriegsdienstverweigernden gegenwärtig den Dienst in der Armee gerichtlich anzufechten.

Hat das überhaupt Erfolg?

In ersten Urteilen konnte zumindest erreicht werden, dass ein Dienst in der Ukraine nicht stattfinden darf. In einem anderen Urteil wurde der Dienst in der Armee untersagt. Soldat:innen und Reservist:innen wird empfohlen, ebenfalls Anträge zu stellen und sich mit anwaltlicher Unterstützung auf die Verfassung zu berufen, die eine solche Einschränkung nicht vorsieht.

In der Ukraine gibt es außer der kleinen „Ukrainischen Pazifistischen Bewegung“, mit der wir seit Gründung zusammenarbeiten, keine weitere Organisation, die sich für Kriegsdienstverweiger:innen einsetzt. Selbst die großen Kirchen rufen ihre Angehörigen zur Landesverteidigung auf.

Was sind die Konsequenzen einer Kriegsdienstverweigerung?

Kriegsdienstverweigerung kann in der Ukraine mit bis zu fünf Jahren Gefängnis bestraft werden. Derzeit sind Haftstrafen von zwei bis vier Jahren üblich. Wenn die Gerichtstermine bekannt sind, können wir internationale Beobachtungsdelegationen organisieren. Teilweise organisieren wir auch Aktionen vor Botschaften und Konsulaten.

Es ist uns gelungen, zusammen mit anderen Organisationen, in Finnland, Litauen und Georgien Büros zur Unterstützung und Hilfe der geflüchteten Menschen zu errichten. Für die Betroffenen gibt es seit März 2022 eine Beratungshotline, wo sie auf Russisch, Englisch und Deutsch Antworten auf ihre Fragen bekommen – via Telefon: plus49 157 824 702 51 oder Mail: get.out.2022[at]gmx.de.

Kriegsdienstverweigerung kann in der Ukraine mit bis zu fünf Jahren Gefängnis bestraft werden. Derzeit sind Haftstrafen von zwei bis vier Jahren üblich

Worin unterscheiden sie sich? Desertierende und Kriegsdienstverweigernde?

Deserteure sind Soldat:innen, die aus eigenem Willen die Armee verlassen. Desertion im Krieg gilt allgemein als die schlimmste Straftat, die ein:e Soldat:in begehen kann und ist mit dem Stigma des »Vaterlandsverrats« behaftet.

Russland und die Ukraine haben jeweils besondere Einheiten, die die Soldat:innen zum Kämpfen anhalten sollen. Sie dürfen dabei auch mit Waffengewalt gegen sie vorgehen.

Kriegsdienstverweigerung dagegen ist ein anerkanntes Menschenrecht, das grundsätzlich jeder Mensch jederzeit in Anspruch nehmen kann, und nicht eingeschränkt werden darf. So kann z.B. ein Soldat feststellen, dass er zum Töten anderer nicht mehr bereit ist, und so zum Kriegsdienstverweigerer werden. Kriegsdienstverweigernde und Desertierende sind in beiden Ländern jedoch die absolute Ausnahme. Weit über 90 Prozent derjenigen, die nicht in den Krieg ziehen wollen, sind Militärdienstentziehende. Sie entscheiden sich angesichts der Rekrutierungen schon vorab, jeden Kontakt mit dem Militär zu vermeiden, tauchen unter oder gehen ins Ausland.

Was sind die größten Hürden für Asylsuchende dieses Krieges?

Das größte Problem für alle, die ihre Beteiligung am Krieg ablehnen, ist die Frage: Wie kann ich das Land verlassen? Nachdem, insbesondere während der Teilmobilmachung, schätzungsweise 150.000 Menschen Russland verlassen haben, um nicht rekrutiert zu werden, hat der Staat an allen relevanten Grenzpunkten Rekrutierungsbüros eingerichtet, die Ausreisenden abfangen und eiziehen sollen. Diejenigen, denen die Flucht dennoch gelang, haben durchweg Probleme: Nirgendwo gibt es einen sicheren Aufenthaltsstatus und eine staatliche Unterstützung und manchmal ist zudem auch die Bevölkerung antirussisch eingestellt.

In etlichen Ländern ist eine Rückführung zu befürchten, so z.B. in Georgien, Armenien und der Türkei. Israel will nun die 20.000 „Neubürger“ aus Russland und der Ukraine zum Militär einberufen. Finnland hat die Asylverfahren für die 60.000, die dorthin geflohen sind, ausgesetzt. Die EU hat im Herbst alle Grenzen zu Russland dicht gemacht. In Deutschland hat die Regierung beschlossen, russischen Deserteuren das Asylverfahren anzubieten. Aber wie sollen sie durch geschlossene Grenzen herkommen?

Kein Asyl, keine Duldung, sondern Ausreiseverfügung

Gab es dann überhaupt schon anerkannte Asylverfahren?

Bislang hat noch niemand von der Regelung profitiert. Für Kriegsdienstverweigernde arbeitet man angeblich seit einem dreiviertel Jahr an einer Regelung. Militärdienstentziehende dagegen sind von dieser Zusage ausdrücklich ausgeschlossen. Die geschätzt 800, die es nach Deutschland geschafft haben, droht nach dem Dublin-III-Verfahren die Ausweisung in das Durchreiseland, z.B. Polen.

Es gibt bereits erste Entscheidungen zu Militärdienstentziehern, die einen Antrag auf  Asyl gestellt haben: Kein Asyl, keine Duldung, sondern Ausreiseverfügung. Die Begründung: Jeder Staat hat das Recht, eine Wehrpflicht durchzuführen. Die Teilmobilmachung sei beendet und eine Generalmobilmachung stehe nicht an. Derzeit gibt es Gerüchte, dass die Bundesregierung versucht, die Abgelehnten etwa über die Türkei zurückzuführen.

Wie ist die Situation für ukrainische Kriegsdiensterweigerende?

Ukrainer haben andere Probleme: Sie dürfen das Land nicht mehr verlassen. Die Ausreisesperre für Männer von 18 bis 60 Jahren ist eine klare Verletzung der UN-Menschenrechtscharta. An der Westgrenze wird rigoros kontrolliert. Eine legale Ausreise ist lediglich für bestimmte, mit der Regierung zusammenarbeitende Personen möglich, sowie z.B. für notwendige medizinische Behandlungen. So bleibt die illegale Ausreise mit Schleusung und Bestechung.

Trotzdem ist es seit Kriegsbeginn 170.000 Männern gelungen, die EU zu erreichen, wo sie sich erstmals für drei Jahre aufhalten können. Eine ähnlich hohe Anzahl von in der EU Arbeitenden dürfte wohl trotz Aufforderung und Strafandrohung nicht zurückgekehrt sein. Aufgrund der geschlossenen Westgrenze sind inzwischen auch Zehntausende nach Russland und von dort weiter, z.B. nach Georgien, geflohen.

Das Recht auf Kriegsdienstverweigerung auch im Krieg gewährleisten

Was fordert ihr von der Bundesregierung?

Wir fordern von der Bundesregierung und der EU

  1. die Grenzen für Russ:innen wieder zu öffnen und Leuten, die in anderen Staaten, in denen sie nicht sicher vor einer Abschiebung sind, Visas auszustellen;
  2. die Schutzzusage für Desertierende auf Kriegsdienstverweigernde und Militärdienstentziehende auszuweiten;
  3. die Aufhebung der Dublin-III-Regelung, also keine Zurückschickung z.B. nach Polen;
  4. einen generellen Abschiebeschutz zu erlassen, damit die Leute nicht doch wieder, z.B. über die Türkei, in Russland landen.

Im September starteten wir dazu die europaweite Unterschriftenaktion #ObjectWarCampaign #StandWithObjectors, worin wir die Gremien der Europäischen Union u.a. auffordern, die Grenzen zu öffnen. Wir bitten um Unterzeichnung!

Was fordert ihr von der Zivilgesellschaft?

Der Ukraine-Krieg zeigt wiedermal, wie wichtig unsere Arbeit ist – und deshalb würden wir uns natürlich wünschen, dass unsere Forderung »Asyl für Kriegsdienstverweigerer und Deserteure« auch von breiten Bündnissen erhoben wird Es braucht eine engagierte Zivilgesellschaft, die gegen Krieg und Militarismus eintritt und Druck auf die Regierenden formuliert und ausübt. Nicht diejenigen sind das Problem, die vor Krieg und dem Dienst im Militär fliehen – denen muss geholfen werden -, sondern diejenigen, die ihn führen, von ihm profitieren und Menschen zu Soldat:innen machen wollen.

Um nicht nur den Blick nach Osteuropa zu werfen. In welchen Ländern und welchen Kriegen / kriegerischen Auseinandersetzungen seid ihr noch eingebunden und unterstützt Menschen?

Connection e.V. existiert seit nunmehr 30 Jahren. Wir unterstützen Kriegsdienstverweigernde weltweit, insbesondere wenn sie von Inhaftierung bedroht sind und treten dafür ein, dass Kriegsdienstverweigerung als Asylgrund anerkannt wird. Es gibt in Europa noch immer Länder, in denen es das Recht auf Kriegsdienstverweigerung nicht gibt: Nord-Zypern, Türkei, Ukraine und Aserbaidschan.

Hervorzuheben ist hier die Situation für Kriegsdienstverweigernde in der Türkei, wo sie zum »zivilen Tod«, so ein Urteil des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofes, verdammt sind. Ebenso prangern wir seit vielen Jahren die Situation in Eritrea an, wo Männer und Frauen wehrpflichtig sind. Sie werden aus dem Militär nicht mehr entlassen und müssen Zwangsarbeit verrichten.

Gibt es besondere Fälle, die du hervorheben möchtest?

Ein weiterer Fokus unserer Arbeit ist Israel, wo sich gerade aktuell wieder vermehrt Militärdienstpflichtige, sowie Soldat:innen und Reservist:innen weigern, in den besetzten Gebieten Palästinas Dienst zu leisten.

Und dann ist da noch Südkorea. In diesem Land sind seit 1945 ca. 20.000 Kriegsdienstverweigernde zu jeweils mehrjährigen Haftstrafen verurteilt worden. Nun ist es gelungen, das Recht auf Kriegsdienstverweigerung durchzusetzen. Allerdings muss im Gegenzug ein erheblich längerer Zivildienst in Gefängnissen abgeleistet werden.

Vielen Dank für das Interview, Franz.


Das Interview führte Simo Dorn im April 2023.

Titelbild: Connection e.V.