„Palästina sollte für jede Gewerkschaft auf der ganzen Welt von zentraler Bedeutung sein“

Interview mit Chris Denson, Mitglied des nationalen Vorstands der britischen Gewerkschaft der Lehrer:innen NEU (National Education Union)

Danke, dass du uns dieses Interview gibst. Könntest du dich zunächst kurz vorstellen?

Ich bin Chris Denson. Ich bin Lehrer in England. Und ich bin auch Mitglied des nationalen Vorstands der Gewerkschaft National Education Union (NEU).

Der Vorstand der Gewerkschaft hat kürzlich eine Resolution zu Palästina verabschiedet. Kannst du mir sagen, was der Inhalt ist?

Nun, wir haben in den letzten Monaten mehrere Resolutionen verabschiedet, denn wir sehen die Zerstörung, die jeden Tag geschieht, als Pädagog:innen, als Menschen, die Lehrer:innen vertreten und Kinder unterstützen. Wir sehen, was mit den Kindern in diesem Gebiet geschieht. Wir sehen, was mit den Schulen geschieht.

Der Resolution ist recht umfangreich. Es wird darauf hingewiesen, dass seit Beginn des Krieges in Gaza über 22.000 Palästinenser:innen getötet wurden – über 7.700 Kinder. Sie stellt auch fest, dass innerhalb von zwei Monaten nicht nur jedes einzelne Krankenhaus in Gaza zerstört wurde, sondern wir vermuten, dass dies auch für jede einzelne Schule gilt.

Kinder in Gaza sind enormem Terror ausgesetzt

Kein einziges Kind im Gazastreifen kann mehr unterrichtet werden, ganz zu schweigen von den Morden, die dort stattfinden. Im Westjordanland ist der Zugang zu Schulen für palästinensische Kinder sehr schwierig. Sie werden auf dem Weg zur Schule regelmäßig an militärischen Kontrollpunkten angehalten. Sie werden mit Waffengewalt festgehalten. Routinemäßig werden Kugeln über ihre Köpfe hinweg abgefeuert. Der Terror, dem sie ausgesetzt sind, ist enorm.

Als Gewerkschaft, sowohl auf lokaler als auch auf nationaler Ebene, haben wir uns darauf geeinigt, dass wir in diesem Kampf an vorderster Front stehen sollten, wenn wir sehen, wie sich ein solcher Völkermord vor unseren Augen abspielt. Wenn wir eine solche menschliche Katastrophe sehen, dann können wir als Lehrer:innen oder Hilfskräfte und als Erzieher:innen auf keinen Fall schweigen.

Unsere Gewerkschaft stand im Mittelpunkt der nationalen Demonstrationen in Großbritannien. In vielen unserer Städte und Gemeinden haben unsere Mitglieder auf diesen Demonstrationen gesprochen. Unser Generalsekretär und unser Präsident haben auf den nationalen Demos gesprochen. Bekannte Aktivist:innen haben sich an vorderster Front an diesen Demonstrationen beteiligt, um sich gegen das zu stellen, was wir jeden Tag erleben.

Wir hatten für den 7. Februar zu einem betrieblichen Aktionstag aufgerufen. Beim letzten Aktionstag am Arbeitsplatz hat eine ganze Reihe unserer Schulen teilgenommen. Wir wollen dies ausweiten und sicherstellen, dass diese Aktivitäten an so vielen Arbeitsplätzen wie möglich durchgeführt werden. Deshalb haben wir beschlossen, es landesweit bei unserer halben Million Mitglieder bekannt zu machen.

Gewerkschaften sollten im Zentrum der Proteste stehen

Wir haben einige Ideen dazu veröffentlicht, was Schulen tun können. In Coventry zum Beispiel, wo ich arbeite, hatten wir gestern Abend unsere Generalversammlung. Ein Teil der Versammlung war der Diskussion darüber gewidmet, was wir in unseren Schulen zum Thema Palästina tun können. Wir haben unsere Mitglieder auch lautstark aufgefordert, an Demonstrationen teilzunehmen, wo immer sie können und Gewerkschaftsfahnen mitzunehmen.

Wir sind der Meinung, dass die Gewerkschaften im Zentrum der Proteste stehen sollten und haben Materialien zusammengestellt, die die Mitglieder in den Schulen einsetzen können, um ihre Schüler:innen über das, was sich vor ihren Augen abspielt, aufzuklären und sie dabei zu unterstützen, ihre Stimme gegen das Töten zu erheben.

Einige Leute würden sagen, dass das, was in Gaza passiert, tragisch ist, aber ihr seid eine britische Gewerkschaft. Ihr solltet euch um eure Mitglieder in Großbritannien kümmern. Was hat Palästina mit britischen Lehrergewerkschaften zu tun?

Ich denke, Palästina sollte für jede Gewerkschaft auf der ganzen Welt von zentraler Bedeutung sein. Wir betrachten die Dinge nicht auf eine enge, sektiererische Weise. Wenn wir z.B. in Großbritannien eine andere Gewerkschaft sehen, die angegriffen wird, unterstützen wir sie. In der vergangenen Woche wurde den Bahngewerkschaften mit einem Mindestmaß an Service gedroht. Daraufhin haben wir gehandelt und unsere Solidarität bekundet. Wenn wir sehen, dass Migrant:innen in unserem Land entsetzlich behandelt werden, müssen wir uns als Pädagog:innen und Gewerkschafter:innen hinter diese Menschen stellen.

„Als Gewerkschaft sollten wir über unsere eigenen Landesgrenzen hinausblicken“

Als Gewerkschaft sollten wir über unsere eigenen Landesgrenzen hinausblicken. Wenn wir sehen, dass Menschen auf der ganzen Welt leiden, dass ihnen ihre Rechte verweigert werden, dass sie getötet und brutal behandelt werden, sei es in Palästina oder anderswo, dann ist es unsere Pflicht, aufzustehen und uns an der Gegenwehr zu beteiligen. Viele Menschen in der Bewegung würden sagen, wenn man schweigt, macht man sich mitschuldig.

Gewerkschafter:innen in Großbritannien und Deutschland und überall sonst auf der Welt sollten von den Dächern schreien, wenn sie sehen, was sich in Gaza abspielt.

Du hast den Aktionstag am 7. Februar erwähnt. Könntest du mehr darüber sagen, was an solchen Aktionstagen passieren könnte?

Man könnte verschiedene Dinge tun. Als wir gestern in einer großen Sitzung diskutierten, sprachen wir darüber, was ich in unserer Schule getan habe. Wir haben eine Reihe von Versammlungen für die Kinder abgehalten. Wir gründen Arbeitsgruppen mit Schülervertretern, um Geld für Save the Children in Gaza zu sammeln. Wir richten sichere Räume ein, damit die Kinder zu uns kommen und mit uns und untereinander über das Thema sprechen können.

Wo das nicht möglich ist, können wir Mitgliederversammlungen einberufen, die gesamte Belegschaft zusammenbringen und Videos von der Palästinensischen Lehrergewerkschaft zeigen. Man könnte überlegen, wie die Mitarbeiter:innen an Schulen Geld für Gaza sammeln könnten. Wenn wir mit Menschen aus dem Gazastreifen oder dem Westjordanland sprechen, sagen sie uns immer, dass Hilfe und Unterstützung großartig sind. Aber das Wichtigste, was sie sich von uns wünschen ist, dass wir nicht schweigen – dass Palästina ein Teil des Gesprächs ist, das jeder führt.

„Es geht um 75 Jahre brutaler Besatzung“

Wenn der Konflikt weitergeht, hoffen wir auf zukünftige Aktionstage, die immer mehr zunehmen werden. Je mehr Orte wir für diese Gespräche nutzen können, desto mehr Druck können wir ausüben, um hoffentlich die Misshandlungen, die wir jeden Tag erleben, zu beenden. Die Unterdrückung des palästinensischen Volkes geht weit über das hinaus, was im Oktober geschehen ist. Es geht um 75 Jahre brutaler Besatzung.

In Gaza spiel Völkerrecht keine Rolle

Zurück zu der NEU-Resolution. Du hast dazu beigetragen, einen Änderungsantrag zum Thema Jemen einzubringen. Was hat der Jemen mit Palästina zu tun?

Der Jemen hat sehr viel mit Palästina zu tun. Eines der Dinge, die uns am meisten beunruhigen, ist die Tatsache, dass wir jeden Tag sehen, wie Kinder ermordet werden. Auf einem winzigen Streifen Land in Gaza werden Kinder bombardiert. Innerhalb von zwei Monaten wurde die anderthalbfache Zerstörungskraft von Hiroshima und Nagasaki zusammen auf Gaza abgeworfen.

Wir haben gesehen, wie jedes Krankenhaus zerstört wurde. Wir haben gesehen, wie jede Schule zerstört wurde. Alle sechs Minuten werden Menschen getötet. Wir sehen, dass jede Stunde fünf Kinder sterben. Zwei Mütter sterben jede Stunde. Jeden Tag werden zehn Kinder ohne Betäubung amputiert und unsere Regierung unternimmt nichts, um einzugreifen.

Im gleichen Moment werden Huthi-Rebellen, weil sie versuchen, Schiffe mit Waffen für Israel zu stoppen, militärisch angegriffen. Ein bisschen Handel ist wichtiger, als Kinder, die jeden Tag ermordet werden.

Wenn es um die Einhaltung des Völkerrechts ginge, würden wir nicht seit Jahren Waffen an die Saudis verkaufen, um sie auf die Huthis abzuwerfen. Wir würden nicht tatenlos zusehen, wie Tag für Tag Kinder im Gazastreifen massakriert werden. Unsere Regierung greift ein, weil sie damit eindeutig zeigen will, wer im Nahen Osten wirklich das Sagen hat.

Deshalb ist die Verbindung zu Palästina für uns so wichtig, denn wir können klar erkennen, was dort geschieht. Es geht nicht um internationales Recht. Es geht um die internationale Kontrolle über das gesamte Gebiet. Es ist keine Überraschung, dass die USA und das Vereinigte Königreich hier mitmischen, während sie die Zerstörung des Gazastreifens tagtäglich geschehen lassen.

„Es ein Völkermord, der live übertragen wird“

Was können Gewerkschafter:innen in Deutschland konkret für Gaza tun?

Es ist eine sehr schwierige Situation. Aber die Dinge sind ständig in Bewegung. In Großbritannien hat sich das, was wir in den Gewerkschaften und darüber hinaus tun konnten, deutlich verändert. Unmittelbar nach dem 7. Oktober war es noch viel schwieriger. Aber jetzt sehen die Menschen die Zerstörung jeden Tag direkt vor ihren Augen. Es ein Völkermord, der live übertragen wird.

Ob wir nun in Deutschland oder in Großbritannien sind, wir müssen uns die Situation ansehen, in der wir uns befinden. Ich weiß, dass Deutschland einen historischen Hintergrund hat, der es schwieriger macht und dass die Diskussion nicht so weit verbreitet ist, aber wir müssen uns immer fragen, wie wir das Boot ein kleines bisschen weiter schieben können.

Wichtig ist, Solidarität zu bekunden

Es ist eine Sache, von heute auf morgen zu Massendemonstrationen überzugehen, aber man könnte vielleicht damit anfangen, kleine Treffen in Schulen zu veranstalten, bei denen die Leute beginnen, über Gaza zu sprechen. Es ist einfach wichtig, dass jeder, der sich mit diesem Thema befasst, versucht zu überlegen, was der nächste Schritt sein könnte.

Nicht jeder muss innerhalb einer Woche an genau demselben Punkt sein. Aber jeder Einzelne, der an der Bewegung beteiligt ist, kann sich überlegen: „Was kann ich tun, um die Sache ein wenig voranzubringen? Kann ich ein Treffen in meiner Schule einberufen? Kann ich ein Treffen von Mitarbeitern an unserer Universität organisieren? Können wir mit Studenten an der Universität zusammenarbeiten, um Treffen zu diesem Thema zu organisieren?“

Je mehr sich der Dialog verschiebt, desto mehr können auch größere Organisationen wie die Gewerkschaften in diesem Bereich Fuß fassen.

Gibt es irgendetwas, das deutsche Gewerkschafter:innen tun können, um die NEU und Ihren Aktionstag zu unterstützen?

Solidaritätsbekundungen sind immer gut, vor allem bei Themen wie diesem. Selbst etwas so Einfaches wie eine Nachricht, die besagt: „Wir unterstützen eure Aktionen. Wir glauben, dass ihr das Richtige tut“, ist sehr wirkungsvoll.

Solidarität ist so wichtig. Nicht nur für uns, sondern auch die Menschen in Gaza.

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Das Interview führte Phil Butland, zuerst erschienen auf theleftberlin.com

Aus dem Englischen von Marijam Sariaslani

Titelbild und Bilder von Davgilz