Aus Protest gegen die Regierung besetzen Studierende seit Wochen fast alle Universitäten in Serbien. Von Marijana Lemm
Serbien erlebt eine Welle von Protesten und Universitätsbesetzungen. Nahezu alle größeren Universitäten wurden von ihren Studierenden besetzt. Einige Aktionen dauern schon über 40 Tage.
Der Auslöser dafür war der tragische Einsturz eines Betondachs im Bahnhof von Novi Sad am 1. November 2024, der 15 Todesopfer forderte. Die Regierung vertuschte das Unglück. Mit Massenprotesten und Besetzungen fordern die Menschen Rechenschaft.
Studierende besetzen Universitäten
Eine Universität zu besetzen ist alles andere als eine feindliche Übernahme. Studierende, Professoren und die Allgemeinheit fordern kollektiv zurück, was ihnen rechtmäßig gehört. Sie wehren sich gegen die Vorherrschaft privater Interessen und verlangen Bildungsräume, die dem öffentlichen Wohl dienen.
Die Besetzungen in Serbien finden rund um die Uhr statt. Tagsüber verwandeln sich die Universitäten in Zentren des Widerstands. Studierende halten Plena ab, leiten Bildungsinitiativen und arbeiten in selbstorganisierten Arbeitsgruppen zusammen. Nachts übernehmen Studierende Schichten, um diese zurückeroberten Räume zu schützen.
Die Ursprünge der Besetzungen
Die erste Besetzung begann Ende November 2024 an der Fakultät für Dramatische Künste (FDU) in Belgrad, nachdem Studierende von organisierten Gruppen angegriffen wurden, die als Zivilisten auftraten, darunter Berichten zufolge auch einige Amtsträger. Obwohl dies unbestätigt ist, glauben viele, dass diese Gruppen regierungsnah waren und darauf abzielten, die Protestierenden einzuschüchtern. Die Polizei versäumte es, auf den Vorfall zu reagieren. Die FDU-Studierenden hielten ein Plenum ab und entschieden gemeinsam, die Fakultät zu besetzen.
Am 26. November gaben sie ihre Forderungen bekannt. Sie verlangten die Identifizierung und Bestrafung aller Täter des Angriffs sowie die Entfernung der betroffenen öffentlichen Beamten. Die Studierenden stimmten dafür, die Besetzung aufrechtzuerhalten, bis alle Forderungen von den zuständigen Behörden erfüllt werden. Seitdem schlossen sich mehr als 60 weitere Fakultäten an, darunter alle großen Universitäten in Belgrad, Novi Sad und Niš. Die Plena dieser Fakultäten nahmen die Forderungen des FDU-Studierendenplenums an, wobei einige ihre eigenen Forderungen hinzufügten.
Die Bewegung und ihre Stärke
Die Bewegung zieht ihre Kraft aus der landesweiten Zusammenarbeit der Studierenden. Sie schafft ein Netzwerk zur Unterstützung, das einem Pilzgeflecht ähnelt. Jeder Teil trägt zum Ganzen bei.
Die studentischen Besetzungen in Serbien sind nicht nur ein Zeichen des Widerstands, sondern auch von Solidarität und kollektivem Engagement. Verschiedene soziale Gruppen haben sich zusammengeschlossen, um sich gegenseitig zu unterstützen, wobei Fakultätsleitungen und Professor:innen die Studierenden unterstützen.
Solidarität und kollektive Organisation
Während die Studierenden die Fakultäten besetzen, decken großzügige Spenden aus den umliegenden Vierteln ihren Bedarf an Nahrung, Wasser und Hygieneartikeln. Um den Zustrom der Spenden zu organisieren, haben die Fakultäten zentrale Koordinationsstellen eingerichtet, an denen die Hilfsgüter verteilt werden. Einzelpersonen und Teams stellen die Logistik sicher. So bleibt keine Fakultät unversorgt. Zudem ist die Transparenz gewahrt, indem man Spenden und Beitragende aufzeichnet.
Besonders hervorzuheben ist der gemeinschaftliche Geist, der in den Besetzungen entstanden ist. Die Studierenden haben ihre individuellen Lebensweisen hinter sich gelassen. Sie leben nun in einer Form, in der sie gemeinsam teilen und Entscheidungen treffen.
Ein Student der FDU sagte in einem Interview: „Menschen, die zu unserer Fakultät kommen, können zum Beispiel unsere Küche benutzen. Alles ist sehr gemeinschaftlich, und das ist meiner Meinung nach ein wichtiger Faktor. Mein Eindruck von all dem ist, dass wir aus einer sehr atomisierten Gesellschaft kommen, in der wir alle in unseren Wohnungen sind, hinter unseren Computern. Jetzt plötzlich sind wir in einem Gebäude, leben zusammen, teilen alles. Wir treffen alle Entscheidungen gemeinsam. Das Paradigma hat sich komplett verändert. Es ist phänomenal, weil wir begonnen haben, als eine große Gemeinschaft zu leben. Ich bin ein bisschen traurig, wenn das alles vorbei ist und wir in unser individuelles Leben zurückkehren.“
Alles dreht sich um Plena
Die Bewegung dreht sich um Plena — offene Versammlungen, in denen alle eine Stimme bei der Entscheidungsfindung haben. Plena finden sowohl auf Universitäts- als auch auf Stadtebene statt. Sie bringen Studierende aus verschiedenen Fakultäten und Universitäten zusammen. Diese offenen Foren folgen einer strukturierten Tagesordnung. Sie bietet Raum für alle, ihre Meinungen zu äußern oder Ideen vorzuschlagen. Entscheidungen werden kollektiv durch Abstimmungen getroffen. Rotierende Moderation sorgt für Fairness. Sekretär:innen protokollieren die Sitzungen, und Vorschläge werden durch Konsens finalisiert.
Mega-Plena befassen sich mit übergeordneten Themen und vereinen Vertreteungen mehrerer Universitäten. Reguläre Plena konzentrieren sich auf spezifische universitäre Anliegen. Kleinere Arbeitsgruppen übernehmen Aufgaben wie die Organisation von Spenden, Koordination von Nahrung, PR-Management, Strategien und Organisation, die Durchführung interner Aktivitäten sowie die Planung von Protestaktionen und Strategien. Diese Gruppen sind flexibel und ermöglichen es den Teilnehmern, je nach Interesse und Kapazität in verschiedenen Bereichen aktiv zu sein.
Mit Bürger:innen und Gewerkschaften
Diese Aktionen, innerhalb der Arbeitsgruppen der Studierenden geplant, gipfelten in einer kraftvollen Demonstration an Silvester. Sie ging vom Parlamentsgebäude zum Studentenplatz, wo sie von 23:52 bis 00:07 für 15 Minuten in Stille standen. Die Menschen begrüßten das neue Jahr in Stille, um den Opfern zu gedenken und daran zu erinnern, dass es nichts zu feiern gibt, bis Gerechtigkeit erlangt ist. Ebenso fanden am 22. Dezember Proteste am Slavija-Platz statt. Es waren die größten seit 2000. 100.000 Bürger:innen und die Gewerkschaften schlossen sich den Studierenden an, um den größten Kreisverkehr in Belgrad zu blockieren und in kraftvoller Stille zu stehen.
Die inklusive und führerlose Struktur dieser Bewegung gewährleistet Einheit, da weder ein Individuum noch eine kleine Gruppe mehr Macht hat als andere. Dieser Ansatz hat sich schnell verbreitet und wurde zu einem Modell für die Organisation von Protesten und Aktionen.
Die Forderungen der Studierenden
Die Forderungen der Studierenden konzentrieren sich auf umsetzbare und realistische Veränderungen. Sie betreffen vor allem das Justiz- und Bildungssystem sowie die institutionelle Verantwortung, anstatt auf eine Regierungskritik oder den Sturz der Regierung abzuzielen.
Zunächst entstanden die Forderungen als Reaktion auf den Angriff an der FDU. Man forderte die Identifizierung und strafrechtliche Verfolgung aller beteiligten Personen. Im Laufe der Zeit erweiterten sich diese Forderungen. Sie bezogen sich auf breitere universitäre und gesellschaftliche Themen. Heute umfassen sie sowohl institutionelle Forderungen als auch einige gemeinsame Ziele mehrerer Universitäten. Allerdings haben nicht alle Universitäten dieselben Forderungen, da jede Institution unterschiedliche Themen priorisiert, die auf ihrem jeweiligen Kontext basieren.
Verantwortlichkeit für die Tragödie in Novi Sad:
- Strafrechtliche Verfolgung der Verantwortlichen für den Einsturz des Betondachs am Bahnhof in Novi Sad.
- Öffentliche Veröffentlichung aller Projektunterlagen im Zusammenhang mit dem Bau.
Strukturelle Reformen:
- Mehr Transparenz bei öffentlichen Infrastrukturprojekten.
- Umfassende Reform der universitären Governance, um sicherzustellen, dass Studierende in Entscheidungsprozesse einbezogen werden.
Schutz der Protestierenden:
- Garantien, dass Studierende, Fakultätsmitglieder und Mitarbeitende, die an den Protesten teilnehmen, keine disziplinarischen Maßnahmen oder andere Formen von Repressalien befürchten müssen.
- Sofortige Befragung aller Verdächtigen, die an den physischen Übergriffen auf Studierende und Bürger:innen während der fünfzehnminütigen Blockaden zum Gedenken an die Opfer beteiligt waren.
Reaktion der Regierung
Die Behörden haben auf einige Forderungen teilweise reagiert. Auf der anderen Seite haben sie versucht, die öffentliche Wahrnehmung zu manipulieren. Sie behaupteten, die Forderungen der Studierenden seien vollständig erfüllt worden.
Die Reaktionen der Regierung auf die Forderungen der Studierenden waren gemischt. Während viele Amtsträger:innen Schweigen bewahrten, versuchte Präsident Vučić, die Bewegung zu diskreditieren, indem er sie als „fremde Einmischung“ bezeichnete. Diese Öffentlichkeit lehnte diese Anschuldigungen jedoch weitgehend ab.