Die Tarifrunden im Handel laufen seit Mai 2023. Ver.di kündigt Streiks im Weihnachtsgeschäft an. Interview mit Karsten Neumann, Beschäftigter in einem Marktkauf in Niedersachsen
Was ist los im Handel? Um was geht es Euch? Wofür kämpft ihr und warum dauern die Tarifrunden im Handel in diesem Jahr so ungewöhnlich lange?
Der Einzelhandel ist eine der Branchen mit den niedrigsten Löhnen. Die Inflationsrate lag 2022 bei fast 7 Prozent, dieses Jahr bis jetzt bei 6,2 Prozent. Wir fordern 2,50 Euro mehr pro Stunde, um nicht noch weiter abgehängt zu werden und um einfach von unserem Gehalt weiter leben zu können. Es gibt eine zunehmende Anzahl von Kolleg:innen, die auf Unterstützungsleistungen angewiesen sind. Wir verrichten täglich harte Arbeit. Während der Corona-Pandemie wurde das gewürdigt, auch von unseren Arbeitgebern, die uns bescheinigt haben, systemrelevant zu sein.
Die Arbeitgeber haben im Juli ihr Angebot für dieses Jahr auf 5,3 Prozent, nächstes Jahr 3 Prozent, erhöht. Seitdem gibt es hier in Niedersachsen/Bremen kein neues Angebot. Das reicht bei weitem nicht und würde eine weitere Umverteilung von unten nach oben bedeuten. Ganz konkret: Milliardenschwere Handelskonzerne, Pandemiegewinner werden reicher auf Kosten der Beschäftigten, die jetzt schon niedrige Löhne/Gehälter beziehen und denen später Altersarmut droht.
Tarifrunde Handel mit Aufbruchstimmung
Wie ist die Stimmung in deinem Betrieb und was sind deine Eindrücke aus der diesjährigen Tarifrunde?
Zu Beginn der Tarifrunde gab es eine Aufbruchstimmung. Wir haben an einigen Großkundgebungen, neben den Streiks vor dem Betrieb, teilgenommen.
Jetzt sind wir seit sechs Monaten aktiv. Ein Ende ist nicht in Sicht. Wir sind enttäuscht über die starre Haltung der Arbeitgeber und die fehlende Wertschätzung für unsere Arbeit. Wir haben nicht damit gerechnet, wie unser Arbeitgeber das Recht auf Streik versuchen auzuhebeln. Streikende Kolleg:innen werden in Gesprächen mit dem Marktleiter unter Druck gesetzt und sie werden aufgefordert, nicht mehr zu streiken. Es wurde mit Arbeitsplatzverlust, Abteilungsschließungen gedroht. Wir sind aber gut organisiert und entlarven das als hohle Drohgebärden.
Die Stimmung im Betrieb hat sich verschlechtert. Die streikenden Kolleg:innen sind aber entschlossen und wir wissen, warum und wofür wir kämpfen.
Es gibt jetzt einen Zusammenhalt
Haben die vielen Streiks deinen Betrieb beziehungsweise die Haltung der Kolleg:innen verändert?
Die Kolleg:innen waren es nicht gewohnt, sich aktiv für ihre Rechte einzusetzen. Es war in vielen Gesprächen eine Passivität spürbar. Vieles wurde vorher hingenommen und nicht hinterfragt. Wir haben viel aufgeklärt und die Kolleg:innen informiert, dass das Geld vorhanden ist, es wird nur nicht an uns weitergeleitet. Viele haben die Zusammenhänge verstanden und dass gewerkschaftliche Organisation der Schlüssel ist, um Dinge zu unseren Gunsten zu ändern.
Es ist ein gutes Gefühl, sich aktiv für die eigenen Belange einzusetzen, statt unzufrieden zu sein und sich zu beklagen. Es gibt jetzt einen Zusammenhalt, das war vorher nicht so. Wir kämpfen für unsere Sache, gehen bei jedem Wetter zusammen raus. Es gibt Mitgliedertreffen in der Freizeit. Nachdem die letzten Verhandlungsrunden ergebnislos verlaufen sind, waren wir natürlich enttäuscht. Es war nicht klar, ob wir unser Ziel erreichen. Jetzt sind wir aber entschlossen weiterzumachen. Aufgeben ist keine Alternative.
Drei Mal Tarifrunde Handel
Insgesamt laufen im Handel in Niedersachsen drei verschiedene Tarifrunden: Der Einzelhandel, der Groß- und Außenhandel und der genossenschaftliche Großhandel. Arbeitskämpfe finden derzeit sowohl im Textileinzelhandel wie bei H&M als auch bei euch im Lebensmitteleinzelhandel, aber auch in den großen Lagerstandorten der Rewe oder Edeka statt. Gibt es eine Vernetzung und Diskussion unter Euch?
Wir hatten über die gesamte Dauer der Tarifrunde mehrere Großkundgebungen in verschiedenen Städten. Dadurch haben wir die Kolleg:innen aus anderen Betrieben kennengelernt.
Die Mitglieder der Tarifkommission planen die Aktionen für die jeweilige Streikphase, in den Bezirken und auch die landesweiten Streiktage. Bei Arbeitsstreiks haben sich die gewerkschaftlich Aktiven und Vertrauensleute getroffen und die weitere Strategie beprochen und geplant. Wir haben z.B. die Kolleg:innen des Großhandels besucht und umgekehrt. Es gibt immer einen Kontakt der Aktiven über gemeinsame Whatsapp-Gruppen. Wir sind dadurch immer informiert, was gerade wo passiert oder wo Unterstützung benötigt wird. Es gibt gemeinsame Streiks branchenübergreifend, wo Möbelhäuser, Textil- und Lebensmittel Einzelhandel zusammen streiken.
Wir finden es auch zunehmend wichtiger, die gesellschaftliche Wahrnehmung für unsere Ziele und Forderungen zu verbessern. Wir halten Kontakt zur regionalen Presse und wurden mehrmals durch den ver.di-Ortsverein unterstützt. Wir haben auch Vertreter von Parteien eingeladen, die unserer Sache zugewandt sind. Die Kunden unterstützen uns. Es herrscht ein großes Unverständnis, dass wir von unseren Arbeitgebern so wenig wertgeschätzt werden.
All das ist gut für die Moral, zu wissen, wir sind nicht allein und es gibt bundesweit ganz viele andere Betriebe in dieser Tariftrunde, wo etwas passiert.
Wir danken dir für das Gespräch und wünschen Euch viel Kraft für die weiteren Kämpfe!