Was ist ein Stellvertreterkrieg?

Was nationalen Befreiungskampf und imperialistischen Stellvertreterkrieg unterscheidet: Afghanistan 1979 und Ukraine 2022.

Die marxistische Tradition hat stets das Recht auf nationale Selbstbestimmung kleinerer und schwächerer Nationen gegen imperialistische Unterdrückung unterstützt. Aber Marxist:innen haben nationale Kriege, in denen der gesamte Charakter des Krieges in einen inter-imperialistischen Konflikt umschlägt und so den Charakter eines Kampfes zwischen Großmächten annimmt, nie unterstützt. Dies war zum Beispiel im Koreakrieg (1950-53) der Fall, in der Kubakrise (1962) und im Kosovo-Krieg (1999) ebenso. Um einen aus sozialistischer Sicht gerechtfertigten nationalen Befreiungskampf von einem imperialistischen Krieg zu unterscheiden, reicht das Kriterium einer direkten Beteiligung oder Nichtbeteiligung des gegnerischen Imperialismus (hier Nato-Truppen) jedoch nicht aus, auch nicht das von Waffenlieferungen einer konkurrierenden imperialistischen Macht. Weder ist die Nichtbeteiligung von Nato-Truppen am Krieg ein Nachweis für die Einstufung des Ukrainekriegs als nationaler Befreiungskrieg, noch sind Waffenlieferungen der Nato ein hinreichender Beweis für einen imperialistischen Stellvertreterkrieg. Das Einzige, was hilft, ist »eine konkrete Analyse der jeweiligen historischen Situation,«  wie der russische Marxist Lenin in seiner Schrift »Der Zusammenbruch der II. Internationale« schrieb. Weiter heißt es: »Von allen Theorien die primitivste ist wohl die vom ›Kriegsanstifter‹. Man hat uns überfallen, wir verteidigen uns; die Interessen des Proletariats erfordern, dass den Störenfrieden des europäischen Friedens Einhalt geboten wird. Es ist die alte Leier, so wohl bekannt aus all den Regierungserklärungen und aus all den Deklamationen der bürgerlichen und der gelben Presse der ganzen Welt.«

Krieg ist die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln

Wir hören und sehen diese Theorie des »Kriegsanstifters« täglich in den Medien. Putin trägt natürlich die volle Verantwortung für den Überfall auf die Ukraine. Aber die Berichterstattung, wonach der russische Präsident Wladimir Putin die alleinige Schuld an der Eskalation des Konflikts trägt, ist äußerst scheinheilig und falsch. Als wäre mit Hinweisen auf den ersten Schuss alles Notwendige über den Charakter eines Krieges gesagt. Lenin fordert stattdessen die »allseitige Untersuchung der betreffenden gesellschaftlichen Erscheinung in ihrer Entwicklung und Zurückführung des Äußerlichen und Scheinbaren auf die grundlegenden Triebkräfte, auf die Entwicklung der Produktivkräfte und auf den Klassenkampf«. Dazu gehört, als Ausgangspunkt der Analyse, die Erkenntnis des bürgerlichen Militärhistorikers Carl von Clausewitz. Er schrieb 1832 in seinem Buch »Vom Kriege«: »Der Krieg ist nichts als eine Fortsetzung des politischen Verkehrs mit Einmischung anderer Mittel.« oder »Der Krieg ist eine bloße Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln.«

Der politische Verkehr zwischen Russland und dem »Westen« ist aber seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs durch einen permanenten Ost-Westkonflikt, einem Lagerkonflikt, geprägt, der die Welt zweimal an den Rand eines atomaren Weltkriegs geführt hatte – besonders spürbar im Koreakrieg oder der Kubakrise. Die Ideologien dieses auch als Kalter Krieg bezeichneten Dauerkonflikts waren dabei nur das »Äußerliche und Scheinbare«. Die »grundsätzlichen Triebkräfte« waren die klassischen Ursachen aller imperialistischen Kriege, nämlich der Kampf um die Aufteilung der globalen Reichtümer dieser Welt.

»Weder Moskau noch Washington – für Internationalen Sozialismus« war eine Antwort von Marxist:innen auf diese bipolare Welt. Dabei waren die Produktivkräfte sehr ungleich verteilt, der Ostblock war zwar militärisch ebenbürtig, ökonomisch aber rückständiger und schwächer als der Westen unter Führung der USA. Der Zusammenbruch des staatskapitalistischen Ostblocks unter russischer Führung (1988-91) war das Resultat des Zusammentreffens von ökonomischer Krise und militärischer Niederlage im russischen Afghanistankrieg (1979-89). Das »Gleichgewicht des Schreckens«, wie es über 40 Jahre die Welt beherrschte, war zusammengebrochen. In Osteuropa und Zentralasien entstand ein Machtvakuum, das auszufüllen sich der US-Imperialismus sofort anschickte. Hoffnungen auf ein »Ende der Geschichte« (Francis Fukuyama) und auf das Anbrechen einer neuen Zeit des Weltfriedens waren Ausdruck der damals unter Historikern und Sozialwissenschaftlern vorherrschenden antikommunistischen Ideologien, die grundsätzlich den Westen als demokratisch und defensiv und das Lager des »Kommunismus« als diktatorisch und offensiv betrachteten.

Wenn der Krieg die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln ist, sollte der Ausgangspunkt linker Analyse sein: Welche politischen Entwicklungen und Triebkräfte gab es denn vor dem Krieg? Welche Politik wird durch den Krieg fortgesetzt?

Brzezinski und das eurasische Schachbrett

Einer der einflussreichsten politischen Berater mehrerer US-Präsidenten, Zbigniew Brzezinski, schrieb 1991 einen Artikel über den Zusammenbruch der Sowjetunion unter der Überschrift »Gezieltes globales Engagement« (Selective Global Commitment). In diesem Artikel erklärt er, dass die »Satellitenstaaten« der früheren Sowjetunion sich sowohl der EU wie der Nato anzuschließen wünschten und dass Russland dies auf alle Fälle verhindern wolle. Er entwickelte diesen Gedanken in seinem 1997 veröffentlichten Standardwerk »Die einzige Weltmacht: Amerikas Strategie der Vorherrschaft« weiter. Er schreibt darin: »Eurasien ist somit das Schachbrett, auf dem sich auch in Zukunft der Kampf um die globale Vorherrschaft abspielen wird.«

Inwiefern die USA ihre globale Vormachtstellung geltend machen können, so die Kernthese des Buches, hänge davon ab, ob sie »dort das Aufkommen einer dominierenden, gegnerischen Macht verhindern können«. Brzezinski entwickelt sehr genaue Vorstellungen davon, wie die US-amerikanische Herrschende Klasse dies bewerkstelligen könne. Er schreibt: »Amerika muß also in seinem Eintreten für eine Osterweiterung Europas besonders eng mit Deutschland zusammenarbeiten. Amerikanisch-deutsche Zusammenarbeit und gemeinsame Führung sind zu diesen Frage ganz wesentlich. Wenn die Vereinigten Staaten und Deutschland gemeinsam die anderen Nato-Verbündeten ermutigen, den Schritt gutzuheißen und entweder mit Russland, sollte es zu einem Kompromiss bereit sein, eine wirksame Übereinkunft aushandeln, oder ihre Entscheidung in der richtigen Überzeugung, daß die Gestaltung Europas nicht den Einwänden Moskaus untergeordnet werden kann, treffen, dann steht der Erweiterung nichts im Wege. Das erforderliche einstimmige Einverständnis sämtlicher Nato-Mitglieder wird nur unter amerikanisch-deutschem Druck zustande kommen, doch wird kein Nato-Mitglied seine Zustimmung verweigern können, wenn Amerika und Deutschland gemeinsam darauf dringen. Letztlich steht bei dieser Bemühung Amerikas langjährige Rolle in Europa auf dem Spiel. Ein neues Europa nimmt bereits Gestalt an, und wenn dieses neue Europa geopolitisch ein Teil des ›euro-atlantischen‹ Raums bleiben soll, ist die Erweiterung der Nato von entscheidender Bedeutung.«

Frei nach Goethe: »Und bist du nicht willig, so brauch ich Gewalt!«. Brzezinski und die US-Regierungen rechneten schon damals damit, dass die Nato-Osterweiterung früher oder später auf den Widerstand Russlands treffen würde, und dass nicht mit einem Entgegenkommen Russlands zu rechnen war. Gleichzeitig warnt Brzezinski vor den Folgen eines Scheiterns aus Sicht der Herrschenden Klasse in den USA: »Sollte die von den Vereinigten Staaten in die Wege geleitete Nato-Erweiterung ins Stocken geraten, wäre das das Ende einer umfassenden amerikanischen Politik für ganz Eurasien. Ein solches Scheitern würde die amerikanische Führungsrolle diskreditieren, es würde den Plan eines expandierenden Europa zunichte machen, die Mitteleuropäer demoralisieren und möglicherweise die gegenwärtig schlummernden oder verkümmernden geopolitischen Gelüste Rußlands in Mitteleuropa neu entzünden. Für den Westen wäre es eine selbst beigebrachte Wunde, die die Aussichten auf einen echten europäischen Eckpfeiler in einer eurasischen Sicherheitsarchitektur zunichte macht; und für Amerika wäre es nicht nur eine regionale, sondern auch eine globale Schlappe.«

Von der Theorie zur Praxis: Die Nato-Osterweiterung

Brzezinskis frühen Vorschläge einer Ausweitung der EU und der Nato auch gegen »Einwände Moskaus« sind in den darauffolgenden Jahren sukzessive umgesetzt worden, zwischen 1999 und 2020 wurden 14 Staaten aus dem ehemaligen Jugoslawien und dem früheren Ostblock unter russischer Dominanz in die Nato aufgenommen. So sieht es heute wie ein Anachronismus aus, dass im Zwei-plus-Vier-Vertrag von 1990 zur deutschen Wiedervereinigung festgehalten wurde, dass keine nicht-deutschen Nato-Truppen auf dem Gebiet der ehemaligen DDR stationiert werden dürfen. In den Endlosschleifen westlicher Propaganda hören und sehen wir, dass niemand Angst vor der Nato haben müsse, die Nato sei ein reines Verteidigungsbündnis, das sich gegen keine andere Macht richte. Dagegen sprechen die Tatsachen. Während der 1990er Jahre nutzte der westliche Imperialismus die relative Schwäche des russischen Imperialismus (durch den Zusammenbruch der Sowjetunion) aus, um eine massive Machtverschiebung im Eurasischen Raum zu organisieren. Die Nato-Mitgliedsstaaten beschlossen mithilfe eines neuen strategischen Konzepts, das Bündnis neu auszurichten. 1992 erklärte der Nato-Rat seine Bereitschaft, Kriegseinsätze auch außerhalb des eigenen Bündnisgebiets zu unterstützen (sog. »Out-of-area-Einsätze«) und notfalls auch ohne UN-Mandat zu intervenieren.

Parallel dazu begann die Nato-Osterweiterung. Diese Bestrebungen mündeten in tiefgreifenden Veränderungen der Ausrichtung der Nato. Auf ihrem Gipfeltreffen in Washington im April 1999 billigten die Staats- und Regierungschefs der Nato das neue Strategische Konzept des Bündnisses. In dem Text »Funktionen militärischer Konfliktregelung durch die Nato« bewertet die Bundeszentrale für politische Bildung diese Entwicklung: »Mit der Festlegung, dass out of defence, out of area sowie out of United Nations agiert werden könne, erteilt sich die Nato mit dem Strategischen Konzept von 1999 selbst die Befugnis zur militärischen Konfliktregelung, wenn sie dies für notwendig hält.«

Weiterhin behält sich die Nato das Recht zu einem nuklearen Erstschlag vor. In der Praxis hat die strategische Neudefinition dazu geführt, dass die Nato in internationale Konflikte militärisch eingegriffen hat, bei denen keiner ihrer Mitgliedstaaten angegriffen wurde. Seit den 1990er Jahren haben Nato oder führende Nato-Staaten mehrere Kriege auf dem Balkan, gegen den Irak, gegen Libyen und gegen Afghanistan mit verheerenden Auswirkungen für die Menschen in diesen Staaten geführt. Seit 1945 haben allein die USA fast 50 Kriege oder Militärinterventionen auf allen Kontinenten dieser Erde geführt, doch in keinem dieser Konflikte waren die USA durch den jeweiligen gegnerischen Staat überfallen oder angegriffen worden. Zwischen 2001 und 2009 haben Nato und USA  ihr »Schild« aus  Raketenabfangsystemen mit Radaranlagen und Antiraketen (Polen, Rumänien) nahe an die russische Grenze gerückt. Sie dienen angeblich der Abwehr von Raketen aus dem Iran und Nordkorea.

Der aktuelle Ukraine-Krieg hat bekanntlich mit einem Überfall durch den russischen Imperialismus begonnen. Aber die Frage nach dem »ersten Schuss« ersetzt nicht die nach den auslösenden, bewegenden politischen Kräften. So gesehen begann dieser Krieg nicht 2022, sondern Anfang der 1990er Jahre, als die US-Regierung und ihre Verbündeten die Neuausrichtung der Nato beschlossen.

Spiegelbildliche Entwicklung des russischen Imperialismus

Diese militärischen und ökonomischen Expansionspläne von EU und Nato trafen spiegelbildlich auf den Beschluss einer neuen Militärdoktrin der Russischen Föderation 1993 noch unter Präsident Jelzin. Der Beschluss sieht die Möglichkeit einer Stationierung russischer Truppen im »Nahen Ausland« vor, wenn dies »auf Grund der Sicherheitsinteressen Russlands und anderer GUS-Staaten notwendig« sei.

Den Begriff des »Nahen Auslandes« hatte Jelzin geprägt. Zum Nahen Ausland zählt die russische Führung die ehemaligen Sowjetrepubliken vom Baltikum bis nach Zentralasien, die 1991 den Staatenbund der Sowjetunion verlassen hatten. So wie der Ausbruch des ersten Weltkriegs nicht das Ergebnis schlechter Entscheidungen dieser oder jener Regierungen waren, sondern auf den Kampf um die Aufteilung der Welt in koloniale und halbkoloniale Einflusszonen zwischen den industriell fortgeschritteneren, monopolkapitalistischen Mächten zurückzuführen ist, so sind auch die treibenden Kräfte, die zum Ukrainekrieg führten, ökonomische und geostrategische. Auf die besondere strategische Bedeutung der Ukraine für Russland hatte Brzezinski im Februar 2014 hingewiesen: »Ohne Ukraine kann Russland nie wieder Supermacht werden. Erst in diesem Zusammenhang wird der erbitterte Kampf Russlands um die Ukraine verständlich.« Und man muss hinzufügen: aus eben diesem Grund wird auch der erbitterte Kampf Washingtons um die Ukraine verständlich.

Auch im Ukrainekrieg sollten Linke mit Lenin »die Zurückführung des Äußerlichen und Scheinbaren auf die grundlegenden Triebkräfte« des Konfliktes verlangen. Die »Äußerlichen und Scheinbaren« Entwicklungen sind die von den Kriegsparteien hochgehaltenen ideologischen Begründungen der Intervention, nämlich der Verteidigung der Rechte russischer Minderheiten einerseits und des nationalen Selbstbestimmungsrechts und der Demokratie in der Ukraine andererseits. (Lies hier den marx21-Artikel: »Ukraine: Marxismus und der Kampf um nationale Selbstbestimmung«.)

Putin hat wiederholt auf die etwa 25 Millionen Russinnen und Russen hingewiesen, die sich nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion in den neuen unabhängigen Staaten wiederfanden. Volkstumspflege und die »Verteidigung« der Rechte russischsprachiger Minderheiten waren auch in der Ukraine und zuvor in Georgien nur ein Vorwand russischer Annexionspolitik und der Absteckung russischer Einflusszonen.

Das gilt umgekehrt auch für die Verteidigung des nationalen Selbstbestimmungsrechts der Ukraine durch die Nato. Berlin und Washington akzeptieren oder dulden die Annexion und koloniale Unterwerfung von Palästina durch Israel, sie liefern Waffen an die israelischen Annexionisten, nicht an deren Opfer.

Die von Olaf Scholz ausgerufene Zeitenwende, die er mit dem Überfall Russlands auf die Ukraine im Februar 2022 zu entdecken glaubte, fand 30 Jahre zuvor statt, als die USA 1991 den Irak überfielen und damit die Hoffnung, dass mit dem Ende des Kalten Kriegs zwischen Washington und Moskau eine Epoche des Friedens anbreche, wie eine Seifenblase zerplatzte. Der Irakkrieg von Präsident Bush Senior war der erste einer Serie von Kriegen (Kosovo/Jugoslawien, Afghanistan, Irakkrieg, Libyen), die dem neuen Machtanspruch der USA als einzig übrig gebliebener Weltmacht entsprachen.

Afghanistan und Ukraine – Parallelen und Unterschiede

Auf den ersten Blick sieht der Afghanistankrieg der späten Sowjetunion Breschnews (1979) aus der Sicht der USA wie eine Blaupause des Ukrainekriegs Putins (2022) aus. 1978 war die KP Afghanistans (DVPA) durch einen Putsch an die Regierung gekommen, der wiederum einen Bürgerkrieg mit den auf dem Land mächtigen Mullahs und Grundbesitzern auslöste. Eineinhalb Jahre nach dem Putsch kam es zur Invasion der Sowjetarmee, die die afghanischen Städte zwar besetzen konnte, nicht aber das Land kontrollierte. Der damals wichtigste außenpolitische Berater von US-Präsident Jimmy Carter, Brzezinski, sagte 1998 in einem Interview mit dem französischen »Nouvelle Observateur«, rückblickend auf seine Rolle als Berater mit Ministerposition, dass die US-Unterstützung der Mudschahedin in Afghanistan bereits ein halbes Jahr vor dem Einmarsch begonnen hätte mit der Absicht, die UdSSR zu einer Intervention dort zu verleiten, um ein »sowjetisches Vietnam« zu schaffen. Gefragt, ob er die Unterstützung der Mudschahedin inzwischen bereuen würde, antwortete er: »Was soll ich bereuen? Diese verdeckte Operation war eine hervorragende Idee. Sie bewirkte, dass die Russen in die afghanische Falle tappten und Sie erwarten ernsthaft, dass ich das bereue? Am Tag, da die Russen offiziell die Grenze überschritten, schrieb ich Präsident Carter: Jetzt haben wir die Möglichkeit, der UdSSR ihr Vietnam zu liefern. In der Tat musste Moskau fast 10 Jahre lang einen Krieg führen, der von der Regierung nicht zu verantworten war, einen Konflikt, der zur Demoralisierung und schließlich zum Zerfall des Sowjetimperiums führte.«

Vietnam stand für die größte militärische Niederlage in der Geschichte der USA. Als der Interviewpartner nachhakt und auf die Verknüpfung von islamischen Strömungen und Terrorismus hinweist, antwortet Brzezinski mit der rhetorischen Gegenfrage: »Was ist wohl bedeutender für den Lauf der Weltgeschichte? Die Taliban oder der Zusammenbruch des Sowjetimperiums? Einige aufgeregte Muslime oder die Befreiung Mitteleuropas und das Ende des Kalten Krieges?«

Robert Gates, der damalige CIA-Chef, hat in seinem Buch »From the Shadows« die Rolle der USA in diesem Krieg ziemlich detailliert erläutert. Er erklärte, dass die CIA von der starken Opposition gegen die kommunistische Regierung von Mohammed Taraki in Afghanistan wirklich überrascht war. Die US-Regierung unterstützte zwar die Mudschaheddin und rief zum Boykott der olympischen Winterspiele in Russland auf, nachdem die Sowjetarmee in Afghanistan einmarschiert war. Aber die militärische Unterstützung blieb in den ersten Jahren des Krieges eher moderat und hatte wenig Einfluss auf das militärische Geschehen in Afghanistan. Erst 1986, sieben Jahre nach Kriegsbeginn, lieferten die USA die tragbaren und kriegsentscheidenden Boden-Luft-Stinger-Raketen, mit deren Einsatz die Mudschaheddin die Lufthoheit Moskaus beendeten. Diese Einschätzung deckt sich mit der des amerikanischen Marxisten Jonathan Neale, der über die Motive des US-Imperialismus 1982 (»Die afghanische Tragödie«) schrieb: »Es gibt mehrere Gründe für das Verhalten der Amerikaner. Sie haben von der russischen Invasion großen Nutzen. Von einem Sieg der Rebellen würden sie nicht profitieren. Die Invasion hat das Ansehen der Russen in der Dritten Welt und in vielen muslimischen Ländern sehr geschädigt.«

Allerdings war das Verhältnis zwischen den afghanischen Mullahs und dem US-Imperialismus nie ein spannungsfreies. Jonathan Neale drückte es 1988, kurz vor dem Abzug der russischen Truppen aus Kabul, so aus: »Falls die Rebellen siegen würden, hätten sich die Amerikaner ein Regime aufgehalst, gegen das der Ayahtollah im Iran wie Mary Poppins aussehen würde. Es wäre ein Regime der ›verrückten Mullahs‹, für das die USA verantwortlich wären. Und es würde innerhalb weniger Wochen zusammenbrechen, wenn die verschiedenen Stämme und ethnischen Gruppen zum wiederholten Mal versuchen würden, sich von dem neuen Staat freizukämpfen.«

Wo wird das Drehbuch des Krieges geschrieben?

Genau dies geschah dann auch: es kam zu einem blutigen Bürgerkrieg zwischen den verschiedenen Gruppen der Mudschaheddin, der schließlich von der stammesübergreifenden Bewegung der Taliban überwunden und beendigt wurde. Jimmy Carter schrieb in seinen 1982 veröffentlichten Memoiren über das militärische Eingreifen der USA in Afghanistan: »Im Jahr 1979 befanden sich die Vereinigten Staaten allenfalls ein bisschen in einem lokalen Drama, dessen Drehbuch woanders geschrieben wurde.« (Keeping Faith: Memoirs of a President) Das Drehbuch des Ukrainekrieges wird – was den Part der USA und seiner Bündnispartner angeht – nicht »woanders« geschrieben, sondern in Washington und ein bisschen auch in Berlin. (Lies hier den marx21-Artikel: »Die Ukraine am Tropf des Westens«.)

Oberflächlich betrachtet erscheint der Einmarsch Russlands sehr ähnlich dem der Sowjetunion in Afghanistan. Damals wie heute unterstützen die USA militärisch und finanziell die Aufstandsbewegung gegen die Besatzungskräfte Moskaus. Auch die Motive sind ähnlich: die russische Armee soll in einem langen Abnutzungskrieg geschwächt werden, Russland soll auf eine zweitrangige Regionalmacht reduziert werden.

Der militärische Sieg der Mujaheddin hat zwar zum Zusammenbruch der Sowjetunion und zur Befreiung der osteuropäischen Völker vom rot lackierten russischen Imperialismus entscheidend beigetragen. Aber in Zentralasien und im arabischen Raum hat der Sieg der Taliban den Zugriff von Nato und EU auf diesen Teil des Kontinents eher geschwächt. Es war kein bloßer Stellvertreterkrieg, es war vor allem ein nationaler Befreiungskrieg. Aus dem ehemaligen Bündnispartner (islamische Fundamentalisten) ist ein neuer Feind geworden. Ein Sieg der Selenski-Regierung über Russland würde den russischen Imperialismus zwar weiter schwächen, aber den Aufstieg des US-Imperialismus 1:1 stärken. Der Afghanistankrieg 1979-1988 hat trotz seiner politisch reaktionären Führung (Mujaheddin, Taliban) den Imperialismus weltweit geschwächt, den russischen unmittelbar und den amerikanischen (»westlichen«) mittelbar. Im Unterschied zum russisch-afghanischen Krieg ist der Ukraine-Krieg ein Stellvertreterkrieg zwischen Nato-Staaten und Russland. So sehr wir uns als Sozialist:innen eine Niederlage Putins wünschen, so wenig wäre ein Sieg der Selenski-Regierung im gegenwärtigen Ukrainekrieg ein Fortschritt für die internationale Arbeiterbewegung im Kampf für eine sozialistische Welt. Wenn dieser Krieg aufhörte, ein Stellvertreterkrieg der Ukraine für die Nato- und EU-Osterweiterung zu sein, könnte er einen progressiven Charakter annehmen. Die wichtigste Voraussetzung dazu wäre eine wirkliche Unabhängigkeitsbewegung in der Ukraine, welche die Umwandlung des Krieges in einen Volkskrieg organisiert – gegen Putin und nicht als Speerspitze der Nato-Osterweiterung. Kein Volk und keine nationale Unabhängigkeitsbewegung hat das Recht, die eigene Befreiung durch die Auslösung eines großen, internationalen Kriegs zwischen atomaren Mächten zu erzwingen.

Wie soll die Linke reagieren?

Sozialist:innen in Deutschland und Europa müssen jetzt die weitere militärische Eskalation durch die Lieferung von immer effizienteren und tödlicheren Waffensystemen stoppen. Eine sofortige Beendigung dieses Krieges bedeutet nicht die Forderung nach Kapitulation der Ukraine vor der russischen Besatzung. Es gibt zahlreichen Beispiele auch aus dem Zeitalter des Imperialismus, die die Möglichkeit von siegreichen nationalen Befreiungskriegen kleinerer, unterdrückter Nationen gegen imperialistische Unterdrückermächte zeigen – nicht nur das Beispiel Afghanistan und Vietnam, sondern beispielsweise auch Algerien. Die Linke kann in einem Stellvertreterkrieg nicht eine Seite unterstützen, weil sie sich damit auf die Seite des einen oder anderen Imperialismus stellen würde. Aus sozialistischer Sicht gibt es deswegen im Ukrainekrieg keine »Guten« oder »Bösen«. Es ist das imperialistische System, das Linke bekämpfen müssen. Viele Gegner:innen von Krieg sind allerdings entweder für den aus ihrer Sicht »demokratischen, fortschrittlichen« Westen, andere halten Russland immer noch für »fortschrittlicher« oder – weil schwächer – für das geringere Übel. Für manche kann nur der Westen imperialistisch sein, für andere nur Russland. Beide Positionen sind falsch.

Die Ukraine ist der Austragungsort eines Kampfes um Einfluss und Macht. Keines der beiden nationalistischen Lager ist fortschrittlich. Beide sind Werkzeuge imperialistischer Großmächte.

Wie sollte die Linke heute damit umgehen? Der russische Marxist Wladimir Iljitsch Lenin schrieb 1915: »Andererseits müssen die Sozialisten der unterdrückten Nationen auf die vollständige und bedingungslose, auch organisatorische Einheit der Arbeiter der unterdrückten Nation mit denen der unterdrückenden Nation besonders bestehen und sie ins Leben rufen. Ohne dies ist es unmöglich, auf der selbständigen Politik des Proletariats sowie auf seiner Klassensolidarität mit dem Proletariat der anderen Länder bei all den verschiedenen Streichen, Verrätereien und Gaunereien der Bourgeoisie zu bestehen. Denn die Bourgeoisie der unterdrückten Nationen mißbraucht beständig die Losungen der nationalen Befreiung, um die Arbeiter zu betrügen: in der inneren Politik benutzt sie diese Losungen zur reaktionären Verständigung mit der Bourgeoisie der herrschenden Nation […] in der äußeren Politik bemüht sie sich, sich mit einer der wetteifernden imperialistischen Regierungen zu verständigen, um ihre räuberischen Ziele zu verwirklichen.«

Das gilt auch heute. Die Linke braucht eine eigenständige Haltung. Nur so kann es zu einem gemeinsamen Kampf für eine demokratische und soziale Republik ohne Oligarchen kommen, die in beiden Lagern die Oberhand gewinnen kann. Nur durch die Besinnung auf die gemeinsamen Klasseninteressen der Arbeiter:innen und Bauern in der Ost- wie Westukraine gegen die Herrschaft der Oligarchen gibt es eine friedliche und soziale Zukunft für die Menschen in der Ukraine.

Und keine unterdrückte Nation hat das Recht, mit Hilfe eines großen Krieges zwischen den konkurrierenden imperialistischen Großmächten seine nationale Unabhängigkeit zu verteidigen. Eben dies strebt aber die Selenski-Regierung vom ersten Tag des Krieges mit Russland an. Es gibt viele kleinere, vom Imperialismus unterdrückte Nationen, die nach 1945 (Algerien) und bis in die jüngste Vergangenheit (Afghanistan) ihre nationale Unabhängigkeit in Volkskriegen mit den Mitteln von Klassenkämpfen und Guerillakriegen durchgesetzt haben.


Titelbild: R.V. Spencer